Warum tut der Hund, was er tut?, Buch über Hundeverhalten für Hundetrainer von Christine Holst
ANAMNESE-LEITFADE FÜR HUNDETRAINER
Schauen wir also, ob das Buch hält, was Bloch in seinem Vorwort verspricht…
In ihrer Einleitung rechnet die Autorin zunächst mit ihrem (und meinem) Berufsstand ab.
Hundetrainer seien ihren Kunden gegenüber nicht empathisch genug und würden über die eigentlichen Bedürfnisse des individuellen Mensch-Hund-Teams hinweg trainieren.
Dabei zitiert sie eine Studie aus dem Jahr 2011: 86% aller Trainer hätten ein negatives Bild von ihren Kunden.
Ich habe bislang noch keinen einzigen Kollegen kennen gelernt, der schlecht über seine Kunden gesprochen hat. Im Gegenteil – häufig nehmen wir doch vor allem besonders schwere und traurige Fälle mit nach Hause, machen uns nach Feierabend Gedanken (und möglicherweise auch Sorgen) und engagieren uns weit über unsere bezahlte Arbeit hinaus.
Christine Holst betont in diesem Buch immer wieder, wie wichtig eine gute Kommunikation zwischen Trainer und Hundebesitzer sei.
Gerade darum hätte ich mir gewünscht, dass sie in ihrer Einleitung nicht pauschal urteilt und ihren Kollegen ebenso Empathie und Akzeptanz entgegen bringt, wie sie es mit ihren Kunden tut.
Das A & O der Anamnese – Der erste Kundenkontakt (S. 11 und 12)
Die Autorin stellt die Relevanz von Individualität beim Erstkontakt in den Vordergrund. Sie zeigt am Beispiel eines Beißvorfalls auf, dass sie hier bereits am Telefon exakt die Anleitung zur Maulkorbgewöhnung geben würde. Dabei würde sie auch darüber informieren, welches Modell sie empfiehlt und wo man es beziehen kann.
Ich stelle hier die Frage, ob diese Anleitung sinnvoll ist, wenn man den Menschen und vor allem den Hund noch gar nicht “live” erlebt hat. Schließlich kann man anhand eines Telefonats nicht einschätzen, wie geübt der Hundebesitzer im Handling mit seinem Hund ist. Vielleicht hat er jetzt Angst vor seinem Tier, nachdem es gebissen hat? Kann ich als Trainer sicher sein, dass der empfohlene Maulkorb wirklich passt? Schließlich ist jeder Hundekopf und jede Schnauze anders geformt und wenn der Maulkorb schlecht sitzt und am Kopf drückt oder reibt, kann es zu Meideverhalten des Hundes, Stress, Angst und Aggressionsverhalten und verzögertem oder gar ausbleibendem Trainingserfolg führen. Ich halte es für elementar, dass der Hund seinen Maulkorb gern trägt und deshalb beim Maulkorbtraining keine Fehler passieren. Diese passieren aber schnell und daher finde ich es notwendig, dass der Trainer vor Ort ist und den Hundehalter anleitet bzw. sogar selbst die Trainingsschritte vormacht.
Meiner Meinung nach ist auch der Vorschlag, bereits beim ersten Kontakt am Telefon den Hundebesitzer bei eventuellen gesundheitlichen Problemen an den Tierarzt zu verweisen, zu früh. Der Anrufer könnte sich dadurch weitergereicht fühlen und es entstehen ihm möglicherweise unnötige Kosten. Sinnvoller finde ich, sich als Trainer den Hund bzw. das Team zunächst anzuschauen, um eine Idee von seinem Gesundheitszustand, aber auch von seinem Verhalten zu bekommen. Dann kann eine Einschätzung gegeben werden, ob eine Erkrankung vorliegt und wie stark sie das Training negativ beeinflusst.
Auf Seite 14 wird das Thema “Distanz zum Kunden” besprochen.
Betont wird, dass ein objektiver Blick auf das Team des Trainers wichtig ist, um zu einer realistischen Einschätzung zu kommen.
Dafür empfiehlt die Autorin, dass der Hundebesitzer vor dem ersten persönlichen Kontakt einen Fragebogen ausfüllt und dem Trainer vorab zukommen lässt. Das Beispiel stellt dar, welche Relevanz die einzelnen Fragen bzw. Antworten haben und kann meines Erachtens eine gute Vorlage für (angehende) Hundetrainer sein, sich auf das Erstgespräch vorzubereiten.
Das nächste Kapitel thematisiert die Kommunikation (ab S. 26) und gibt einen Überblick über Kommunikationsformen und -arten. Vieles davon kennt der Leser möglicherweise noch aus der Schule, der Uni oder der Berufsausbildung. Dennoch ist es gut und wichtig, sich noch einmal bewusst zu machen, dass wir immer kommunizieren, wenn wir mit Menschen zusammen sind und welche Fallstricke Kommunikation manchmal beinhaltet.
Ab Seite 37 kommt dann wieder die “Arbeit am Hundeschulkunden” ins Blickfeld und damit das erste persönliche Kennenlernen zwischen Trainer und Hundebesitzer.
Der Leser erhält hier einen guten Leitfaden, was alles beim Erstgespräch zu beachten ist. Dieses Kapitel wird sicherlich vor allem angehendenden Trainern ohne oder mit wenig Berufserfahrung helfen.
Im Anschluss wird die Anamnese als Teil des Erstgesprächs unter die Lupe genommen. Hier wird der “Anamnesebaum” vorgestellt, den ich persönlich etwas umständlich finde und der sich durch das gesamte Buch zieht. Grundsätzlich finde ich eine Visualisierung gut, um ein Buch aufzulockern, aber mit dem Baum werde ich nicht warm…
Den Anamnesebaum muss man sich so vorstellen, dass jeder Bereich, der bei der Anamanese wichtig ist, einen Ast darstellt. Themen, die aufeinander aufbauen oder zusammen gehören, haben einen gemeinsamen größeren Ast und verzweigen sich dann in die Unterthemen. Der Baum wird am Anfang eines jeden Kapitels mit den entsprechenden Inhalten dargestellt, so dass der Leser eine Vorstellung bekommt, in welchem Bereich der Anamnese er sich befindet. Am Ende entsteht ein großes Ganzes – ein großer Baum mit vielen Ästen.
Schlussendlich beinhaltet er jedoch alles, was benötigt wird, um ein umfassendes Bild über den Hund und das Problem zu bekommen. Jeder im Baum genannte Aspekt wird ausführlich beschrieben und mit Beispielen anschaulich erläutert. Auch der “Faktor Mensch” und seine Lebensumstände kommen hierbei nicht zu kurz.
Exkurse in die Themen Angst, Bindung/Beziehung und Stress runden das Kapitel ab. Die Autorin verweist immer wieder auf Studien und Aussagen führender Kynologen, was dem Leser die Möglichkeit gibt, sich weiterführend zu informieren und dem Buch insgesamt einen fundierten Eindruck gibt.
Besonders gut gefällt mir, dass kurz und knapp, aber gut nachvollziehbar, auch das Thema Ernährung besprochen wird. Mir fehlt hier allerdings der Hinweis auf die Komplexität des Themas und der Verweis auf eine(n) Ernährungsfachmann oder -frau (oder zumindest einen Buchtipp), wenn der Trainer keine entsprechende Zusatzqualifikation besitzt und eine Ernährungsumstellung sinnvoll erscheint.
Im Bereich “Status von Erziehung, Training und Gehorsam” findet der Leser neben sinnvollen Fragestellungen auch eine Abhandlung über diese Begriffe. Hilfreich zu erwähnen wäre vor allem, welche Schlussfolgerungen der Hundetrainer auf mögliche Antworten auf diese Frage ziehen kann und wie sich diese auf die das Training am (Problem-)Verhalten des Hundes auswirken.
Ein ganzes Kapitel widmet sich dem Thema “Auslastung und Beschäftigung” – welche Spielarten machen den Hund zum “Junkie” und pushen ihn zu sehr? Und welche Formen des Miteinanders zwischen Mensch und Hund bzw. innerartlich sind sinnvoll und nachhaltig? Auch der Hinweis darauf, dass unterschiedliche Hundetypen, Rassen und Altersklassen von unterschiedlichen Beschäftigungsarten profitieren ist prima – ebenso der unbedingte Hinweis, dass Hunde sehr viel Schlaf und Ruhe benötigen. Der Anamnesebaum zu Beginn des Kapitels gibt gute Tipps zur Fragestellung in der Erstberatung.
Ein weiterer Abschnitt des Buches befasst sich mit der Persönlichkeit unserer Haushunde. Hier bekommt der Leser mehrere Modelle vorgeschlagen, die eine Einteilung von Persönlichkeitstypen vornehmen. Das nachfolgende Kapitel baut darauf auf und beschäftigt sich mit Verhaltensmerkmalen, die den Hund eben nicht in eine Schublade stecken, sondern bei der Persönlichkeitseinschätzung des individuellen Tieres helfen. Ich persönlich halte diese Variante für sinnvoller, da es dem Hund keinen Stempel aufdrückt.
Im Themenbereich “Verhalten gegenüber Artgenossen” ab Seite 129 wird das Thema “Aggression gegenüber Artgenossen” sehr ausführlich behandelt und auf die unterschiedlichen Arten aggressiven Verhaltens eingegangen. Auch hier untermauert die Autorin ihre Erläuterungen wieder mit Zitaten renommierter Kynologen und verweist auf sie. Was mir in diesem Kapitel fehlt ist das Thema “Leinenaggression” – meiner Erfahrung nach macht sie einen Großteil der täglichen Arbeit als Hundetrainer aus und sollte daher behandelt werden.
Außerdem fände ich hier genauso wie im folgenden Kapitel, in dem es um Aggressionen gegenüber Menschen geht, eine Managementliste sinnvoll. Meines Erachtens gehört diese jedem Besitzer, der einen Hund mit Aggressionsverhalten hat, im Erstgespräch an die Hand gegeben. Auf dieser Liste sollten Dinge notiert sein, die helfen, dass es nicht zu Unglücken und Verschlimmerung des aggressiven Verhaltens kommt, bis das Training greift.
Ab Seite 140 wird erläutert, weshalb Hunde sich in der Umwelt unsicher oder ängstlich verhalten können. Es finden sich wichtige Hinweise auf die Sozialisationsphasen beim Welpen, Probleme, die durch Deprivation entstehen können und weshalb Hunde aus dem Ausland im neuen Zuhause oft ängstliches und unsicheres Verhalten zeigen.
Sinnvoll sind die Buchtipps am Ende des Kapitels (hier wäre es gut, auch Titel und Verlag zu nennen, anstatt nur die Autoren) und der Hinweis, dass Aufklärung über gute Zucht- und Haltungsbedingungen von Welpen nötig ist. Bei letzterem könnte ich mir sogar vorstellen, dass ein gesamtes Kapitel dazu Sinn ergeben würde, denn Hundetrainer beraten auch häufig vor dem Hundekauf!
Im letzten Themenbereich des Buches geht es um Testsituationen, mit denen der Trainer im Rahmen der Anamnese ein Bild vom tatsächlichen Verhalten des Hundes in der Problemsituation bekommen kann und wie er die vom Hundehalter erhaltenen Informationen praktisch überprüfen kann.
Die gestellten Situationen sind sicherlich sinnvoll, um als Trainer einen Eindruck über das tatsächliche Problemverhalten des Hundes zu bekommen. Wünschenswert wäre aber in diesem Kontext eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Thematik – je nach Trainingsphilosophie möchte man u.U. im Training gar nicht, dass der Hund unerwünschtes Verhalten zeigt. Muss der Hund dann wirklich in die stressende Situation gebracht werden, die das Auslösen seines unerwünschten Verhaltens mit sich bringt? Welchen Nutzen haben diese Tests wirklich, was das zukünftige Training angeht?
Hier bleiben m.E. Fragen offen, zumal der Leser keine Ideen bekommt, wie er denn mit seinen im Test erhaltenden Informationen umgehen soll.
Fazit: Insgesamt bin ich von dem Buch durchaus angetan – was sicherlich auch daran liegt, dass es meines Wissens das erste Buch dieser Art auf dem Markt ist.
Gerade für angehende Hundetrainer wird das Buch eine wichtige Hilfe sein, um eine fundierte Erstanamnese durchzuführen und aufgrund dieser einen sinnvollen Trainingsansatz zu finden. Die Kompetenz dieses Buches zeigt sich an den vielen Quellen, die die Autorin anbringt- Easy Dogs Insidertipp
Ich halte nicht jede dieser Quellen für zitierfähig, denke aber, dass sie mit der Quellenvielfalt Hundetrainer verschiedener Trainingsphilosophien anspricht und damit eine breite Zielgruppe erreicht. Auch kann ich nicht jeder ihrer Aussagen zustimmen, vor allem, wenn es um die Bereiche “Führung”, Dominanz und Bindung geht.
Wer aber das Buch mit offenen Augen liest und nicht jedes Wort auf die Goldwaage legt, wird eine wichtige Hilfestellung erhalten.
VERLAGSINFO:
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- Autorin: Christine Holst
- Verlag Eugen Ulmer, Auflage 1 (16. März 2017)
- Umfang: 176 Seiten
- Sprache: Deutsch
- ISBN: 978-3800108541
- Format: 17,2 x 24,1 cm
- Preis: 29,90 €
Jedes erfolgreiche Hundetraining verlangt nach einem tiefgreifenden Verständnis sowohl des Hundes als auch des Menschen. Christine Holst zeigt auf Basis neuster wissenschaftlicher Erkenntnisse, wie Sie die Ursachen für „Problem“-Verhalten bei Hunden analysieren, den Hund so besser verstehen und folglich ganzheitliche Therapie- und Trainingskonzepte entwickeln können. Mit einem Vorwort von Günter Bloch und einem Nachwort von Dr. Dorit Urd Feddersen-Petersen.
„Der Autorin gelingt es in bisher nie dagewesener Form, einen Leitfaden zu offerieren, der Kommunikation in seiner Ganzheit verstehen lässt und eine Fallanalyse ermöglicht, die in eine nachvollziehbare Diagnose mündet.“
Günther Bloch
„Christine Holst etabliert mit ihrem fein verzweigten Anamnese-Baum eine solide Basis verhaltensbiologischer wie physiologischer Kenntnisse, um folgerichtig und nachvollziehbar Therapie- und Trainingskonzepte entwickeln zu können. Dies ist wahrlich objektives Neuland.“
Dorit Urd Feddersen-Petersen