Tarnkappenverstärkung
Training & Verhalten(Bootleg Reinforcement a.k.a.) – “Eingeschmuggelte Verstärkung”
Originaltext von Eileen Anderson veröffentlicht am 6. März 2015 im Blog “eileenanddogs”
Übersetzung von Maria Rehberger & Katharina Volk
Wussten Sie, dass es einen interessanten Namen für etwas gibt, das manchmal unsere Trainingspläne über den Haufen wirft?
Bootleg Verstärkung, oder zu deutsch “eingeschmuggelte Verstärkung”: Verstärkung, die nicht Teil einer Trainingsmaßnahme ist (findet ja in der Einheit statt, nur nicht beabsichtigt) und die Tendenz hat, diese zu untergraben. scienceofbehavior.com
Der Begriff “bootleg” bzw. “eingeschmuggelt” bedeutet nicht, dass irgendetwas an der Verstärkung falsch oder zweitklassig ist. Im Gegenteil, meistens ist sie etwas sehr Wirksames. (Im Anschluss ist der historische Gebrauch des englischen Ausdrucks erklärt.) “Bootleg”/”eingeschmuggelt” ist ein Werturteil, aber aus unserem Blickwinkel, nicht aus der Sicht desjenigen, dessen Verhalten da verstärkt wird. Es bedeutet, dass genau diese Verstärkung unsere Pläne und Trainingseinheiten durcheinander wirbelt. Etwas anderes wetteifert mit unserem Trainingsplan – und gewinnt. Eingeschmuggelte Verstärkung ist oft in Situationen im Spiel, die herangezogen werden, um zu “beweisen”, dass Training über positive Verstärkung nicht funktioniert. Beispielsweise springen manche Hunde weiterhin Leute an, obwohl sie für “alle Viere auf dem Boden” verstärkt werden und die angesprungenen Leute sich wegdrehen und den Hund ignorieren, wenn dieser springt. Die Aufmerksamkeit zu entziehen, funktioniert nicht. Manchmal passiert das, weil das Anspringen oder Anrempeln für den Hund selbstbelohnend ist. Die Leute können dem Hund den Rücken zudrehen, bis sie schwarz werden, aber die eingeschmuggelte Verstärkung erhält das Verhalten aufrecht, so lange dem Hund das Anspringen und der Körperkontakt Spaß machen. In diesem Fall funktioniert die positive Verstärkung also ganz hervorragend! Nur nicht der Verstärker, den wir einzusetzen versuchen.
Wenn ein Hund Zugang zu einem eingeschmuggelten Verstärker bekommt, wird er für genau das Verhalten belohnt, das Sie ihm abgewöhnen wollen. Einige alltägliche Beispiele für solche “Tarnkappenverstärker”:
- Essen auf dem Küchentresen
- Abfälle im Mülleimer
- Futter, das der Hund sich schnappen kann, wenn er Ihnen auf dem Agilityplatz davonsaust zurück in den Bereich, wo Sie sich vorbereitet haben
- Alles mögliche Getier auf dem Trainingsplatz
- Rattenpfade entlang der Wände einer Agility-Trainingshalle (das ist mir und meinem Hund einmal passiert)
- Bücher im Bücherregal, die sich der Hund zum Zerkauen holen kann
- Vergrabener Katzenkot, den der Hund ausgraben kann
- Der Nachbarshund, der zum Zaunkampf parat steht (es gibt auch eingeschmuggelte negative Verstärker, fällt mir gerade auf, wo ich so drüber nachdenke)
- Was auch immer beim Bellen verstärkend wirkt (entweder positiv oder negativ verstärkend)
- Alles, was der Hund erreichen kann, indem er an der Leine zieht. Und das führt uns direkt zu…
Gerüche
Das Beispiel in den Videos unten beinhaltet den eingeschmuggelten Verstärker Geruch. Geruch ist ein etwas ungewöhnlicher Tarnkappenverstärker im Haus, aber ein sehr häufiger draußen, beim Spaziergang an der Leine. Wenn Sie mit Ihrem Hund Gassi gehen und er hat Erfolg damit, Sie zu einer interessanten Schnüffelstelle zu ziehen, was ist dann passiert? Mit ziemlicher Sicherheit genau das Gleiche, als wenn jemand ihm ein Leckerchen gegeben hätte: Das Ziehen an der Leine wurde positiv verstärkt. Der Zugang zu Gerüchen ist ein großartiger Verstärker für die meisten Hunde, und er ist verdammt schwer zu kontrollieren. Teufel nochmal, meistens wissen wir ja nicht mal, dass der Geruch überhaupt da ist! Geruch ist ein klassischer Tarnkappenverstärker für Hunde draußen, aber ich möchte Ihnen klarmachen, dass er auch drinnen äußerst wirksam sein kann.
Clara, meine in der Wildnis geborene Hündin (steht so auf der Website), ist extrem neugierig. Mit Ausnahme dieser verflixten Dinger, die man Menschen nennt, ist sie von allem Neuen fasziniert – es zieht sie beinahe magisch an und muss untersucht werden. Sie bemerkt es sofort, wenn ich neue Schuhe oder Klamotten trage. Sie liebt es, Dinge zu erkunden. Sie ist bestrebt, alles Neue, was ich ins Haus bringe, gründlich zu untersuchen – und ich meine wirklich alles. Hauptsächlich, indem sie es beschnüffelt.
Und hier kommen wir zum Problem. Ich habe kürzlich in dem Artikel “What’s an Antecedent Arrangement?” über das Verhalten meiner Hunde auf der Schmutzfangmatte geschrieben. Letztens hatte ich wieder einmal damit zu kämpfen. Obwohl ich sie oft und gut dafür belohnt habe, auf ihre Matte zu gehen, tut Clara es manchmal doch nicht, sondern läuft zu mir und schnuppert mich von oben bis unten ab. Weil ich direkt an der Tür stehe, kann ich nirgendwohin ausweichen, und sie genehmigt sich einen Schnupperer, bevor ich irgendwas dagegen tun kann. (Das ist vermutlich eine weitere Eigenschaft der Tarnkappenverstärkung: Wie frustrierend es ist, das hilflos mitansehen zu müssen!)
Mir wurde klar, dass dieses Verhalten ein großartiges Beispiel wäre, um Tarnkappenverstärkung zu erklären – und meinen Trainingsansatz für das dadurch verursachte Verhaltensproblem.
Die Videos
Die beiden Videos weiter unten habe ich aufgenommen, um Tarnkappenverstärkung aufzuzeigen. In Teil 1 geht es um die Definition des Begriffs und ein kurzes Beispiel. Teil 2 zeigt die Anwendung und die Ergebnisse der Trainingsmaßnahme, mit der ich der Tarnkappenverstärkung in unserem Beispiel entgegengewirkt habe. Sie könnte viele von Ihnen sehr überraschen.
Ich habe schon eine ganze Menge über Dr. Susan Friedman und die “Humane Hierarchy” (hier ein Bild der “Humane Hierarchy”) geschrieben. Das interessante Ende der Hierarchie ist für mich das “tiergerechteste” oder humanste untere Ende: Hier sind die Maßnahmen zur Verhaltensänderung aufgelistet, die noch weniger “invasiv” für das Tier sind als Training mit positiver Verstärkung.
Wenn ich die “Humane Hierarchy” (Video) und die Beeinflussung von Antezedenzien (= alles was vor dem zu verändernden Verhalten passiert, Anm. d. Übersetzerin) nicht kennengelernt hätte, wäre ich ehrlich gesagt nie auf diesen Schritt gekommen, der sich als unglaublicher Gewinn für Clara und mich herausgestellt hat. Als es zum ersten Mal funktioniert hat und ich mir das Video angeschaut habe, kamen mir die Tränen.
Der Standard-Tipp für eine Situation mit konkurrierenden Verstärkern – wie die Wahl zwischen “geh auf die Matte und du bekommst einen Keks” und “schnupper da dran und du kriegst einen neuen Geruch” – wäre, noch einmal von vorn anzufangen, das erwünschte Verhalten noch hochwertiger zu belohnen und die Anforderungen langsamer zu steigern. Trainer, die über positive Verstärkung arbeiten, besonders so unerfahrene wie ich, kommen ständig in diese Situation. Huch, wir haben nicht hochwertig genug belohnt. Müssen nochmal von vorn anfangen. Und im Allgemeinen funktioniert das auch. Wir betrachten positive Verstärkung nicht als sonderlich “invasive” Maßnahme, nutzen sie aber oft, um das Verhalten, das der Hund von sich aus zeigen würde, durch ein Alternativverhalten zu ersetzen. Die Motivation zu diesem ursprünglichen Verhalten wird dadurch aber nicht geringer.
Also – was, wenn der konkurrierende Verstärker keine Konkurrenz mehr wäre? Wenn wir ihn in einen “legalen” Verstärker umwandeln könnten? Mit Verhaltensweisen, die absolut unakzeptabel sind, wie z. B. Katzenkot fressen oder Kleinkinder über den Haufen rennen, können wir das natürlich nicht machen, aber schnüffeln? Wäre doch einen Versuch wert.
Um ein Verhaltensproblem anzugehen, schlägt Dr. Friedman vor, sich etwas einfallen zu lassen, wie das Tier das haben oder tun kann, was es will, wenn es irgend möglich ist. Dieser Ansatzpunkt und die “Humane Hierarchy” führten mich zu dem Schritt, den “Tarnkappenverstärker” zu einem bewusst erlaubten, quasi “legalen” Verhalten (im 2. Video sieht man es, das Schnüffeln ist hier KEIN Verstärker für die Matte! Das Bedürfnis wird vorher woanders erfüllt, Schnüffeln erlaubt, aber nicht als Verstärker eingesetzt) zu machen. Und wie Dr. Friedman es beschreibt, lief es insgesamt darauf hinaus, dass Clara den Megaverstärker bekam. Jetzt konnte sie freudig das Verhalten zeigen, das ich brauchte, damit unser Alltag halbwegs reibungslos läuft. Der Standard-Ratschlag nutzt zwar auch positive Verstärkung, aber wenn ich ihm gefolgt wäre, hätte Clara weniger Anregung in ihrem Leben und weniger Wahlmöglichkeiten. Noch einmal vielen Dank, Dr. Friedman!
Ich wette, es gibt viele weitere großartige Beispiele für Tarnkappenverstärkung. Wollt ihr sie uns zeigen?
Anmerkung zum Begriff “Bootleg”
Das Adjektiv “bootleg” (von bootleg, der Stiefelschaft) in der Bedeutung “illegal” (geschmuggelt, verdeckt) stammt aus dem amerikanischen Englisch des 19. Jhdt. und rührt daher, dass schwarz gebrannter oder gehandelter Alkohol gern im “Flachmann” im Stiefelschaft versteckt wurde (wie schon zuvor Messer und Pistolen).
Vielen Dank an Debbie Jacobs, Randi Rossman und Dr. Susan Friedman für die Anregungen zu den Videos. Sämtliche Fehler sind selbstverständlich meine eigenen. Clara beschnüffelt aufgeregt meinen Schuh. Wirklich! (Foto: Eileen Anderson)
(Beitrag aktualisiert: Juni 2023)