Der MDR1 Gendefekt: Wenn der Türsteher an der Blut-Hirn-Schranke fehlt von Daniela Rettich
Daniela Rettich, epubli Verlag; 1. Edition (12. Juli 2021)
Das handliche Hardcoverbuch von Daniela Rettich handelt vom MDR1 Gendefekt, der bei vielen Hüte- und Treibhunderassen, Collietypen aber auch langhaarigen Windhundrassen vorkommt. Es ist in leicht verständlicher Sprache für Hundehalter:innen und Laien geschrieben und ist 2021 im Eigenverlag erschienen. Die Autorin ist Hundehalterin (und Hundetrainerin in Frankreich) eines betroffenen Australian Shepherds.
WAS IST DER MDR1 GENDEFEKT UND WIE WIRKT ER SICH BEIM HUND AUS?
Die Abkürzung MDR (“Multi Drug Resistance”) kann lt. Buch etwa übersetzt werden mit “Widerstandsfähigkeit gegenüber Giftstoffen” (bzw. Multiple Arzneimittelwirkstoff-Widerstandsfähigkeit). Das MDR1 Gen ist verantwortlich für die Produktion des Eiweißes p-Glykoprotein, welches in der Blut-Hirn-Schranke gebildet wird und die Aufnahme von Arzneimittelwirkstoffen reguliert. Die Autorin vergleicht die Funktionsweise des p-Glykoproteins in ihrem Buch sehr anschaulich mit einem Türsteher, der entscheidet, wer hinein darf und begleitet ungebetene oder zu viele Ankömmlinge wieder nach draußen.
Hunde mit dem MDR1 Gendefekt haben für bestimmte Substanzen (z.B. unten verlinkte Arzneimittel aber auch Narkosen, Opiate, Parasitenbekämpfungsmittel, Entwurmung und Cortison (Dosis muss angepasst werden!)) eine deutlich durchlässigere Blut-Hirn-Schranke als nicht betroffene Hunde.
Ist das MDR1 Gen defekt, dringen die schädlichen Substanzen ungehindert in das Hundegehirn aber auch in andere Organe wie Leber und Nieren ein. Bei Gabe eines unpassenden Medikaments kommt es zur Vergiftung (Erbrechen, Durchfall, Zittern, Desorientierung, Koordinations- und Bewegungsstörungen); im schlimmsten Fall mit tödlichem Ausgang.
Außerdem ist es wichtig zu wissen (und wenig bekannt), dass der MDR1 Gendefekt gravierende negative Auswirkungen auf die Stressresistenz (Selbstregulation, Selbstkontrolle, Frustrationstoleranz, Impulskontrollfähigkeit) hat und durch die erhöhte Stressanfälligkeit Folgeerkrankungen entstehen können.
FÜR WEN IST DIESES BUCH WICHTIG?
- Zukünftige Hundehalter:innen (Welpen-Interessenten) folgender Rassen und Mischlingen aus:
- Australian Shepherd (Aussie)
- Berger Blanc Suisse (Weißer Schweizer Schäferhund)
- Border Collie
- Deutscher Schäferhund
- English Shepherd
- Kurzhaar Collie
- Langhaar Collie
- Langhaar Whippet
- McNab (optisch wie ein kurzhaariger Border Collie)
- Mini Australian Shepherd (Mini Aussie)
- Old English Sheepdog (Bobtail)
- Shetland Sheepdog (Sheltie)
- Silken Windhound (bzw. Silken Windsprite)*
- Wäller
- Hütehundmischlinge und Mischlinge aus den genannten Rassen
- Wichtiger Hinweis der Autorin:
“Betrachtet man die Studie hinsichtlich der Verwandtschaft einzelner Rassen, so kann man davon ausgehen, dass noch mehr Hunde von diesem Gendefekt betroffen sind.” (S. 14)
- Wenn Du einen Hund (oder Mischling) o.g. Rassen hast.
- Wenn Du einen Wurf mit mindestens einem o.g. Rassehund oder Mix als (Hobby-) Züchter:in planst.
- Hundetrainer:innen und Verhaltensberater:innen
Bei Kundenhunden dieser Rassen mit ungewöhnlich großer Stressanfälligkeit, unerklärbarer Stressbelastung oder eingeschränkter Trainierbarkeit sofern andere körperliche Ursachen ausgeschlossen sind bzw. um den MDR1 Gendefekt einordnen zu können.
AUFBAU UND INHALT DES BUCHS:
Im Buch werden im Kapitel “Genetik” die Grundlagen der Genetik und die wichtigsten Fachbegriffe, wie zum Beispiel Gendefekt und Genmutation, auf einfache Weise erklärt.
In den Folgekapiteln geht es um das MDR1 Gen an sich und anschließend um den Gendefekt. Interessant finde ich, dass die MDR1 Genmutation vermutlich von nur einem einzigen Tier – Mitte des 19. Jahrhunderts – ausgeht.
Im Kapitel “Die Blut-Hirn-Schranke” wird ihre Funktionsweise und die Unterschiede von gesunden und betroffenen Hunden anschaulich beschrieben.
Im Anschluss daran kommen wichtige Kapitel über Stress. Die Autorin geht detailliert darauf ein, weshalb der MDR1 Gendefekt sich vor allem auch auf die Stressachse des Hundes und das Hormonsystem bzw. seinen Gehirnstoffwechsel auswirkt.
Auf den Seiten 57-60 geht sie auf den wichtigsten Punkt im Buch ein, nämlich die Auflistung kritischer Arzneimittel, die direkt eine Vergiftung auslösen können und die Präparate, welche eine Überempfindlichkeit mit starkem Unwohlsein verursachen können.
Das sind Präperate aus den Bereichen:
- Antibiotika (bei bakteriellen Infektionen)
- Antiemetika (Arzneimittel gegen Übelkeit und Erbrechen)
- Antihistaminika (bei Allergien, allergischen Reaktionen)
- Antimykotika (bei Pilzbefall)
- Antiparasitika und makrozyklische Laktone (Mittel gegen Außen- und Innenparasiten)
- Oktadepsipepside (Entwurmung)
- Antiarrhythmika (Herzrhythmusstörungen)
- Chemotherapeutika, Alkaloide, Taxanoide (Krebstherapie)
- Gastrointestinale Medikamente (Magen-Darm-Trakt)
- Immunsuppressiva (zur Unterdrückung des Immunsystems)
- Neuroleptika (Psychopharmaka: Acepromazin – wird bedauerlicherweise immer noch für Silvester eingesetzt)
- Opioide (bestimmte Schmerzmittel)
- sowie wichtige Infos zu Cortison und Dexamethason
WICHTIG BEI DER ANSCHAFFUNG DES HUNDES:
Der MDR1 Gendefekt wird vererbt!
Nachdem die Autorin Daniela Rettich erklärt, was wichtig zu wissen ist, wenn man einen Trägerhund (+/-) oder einen Hund mit MDR1 Gendefekt (-/-) hat, geht sie darauf ein, wie der Gendefekt überhaupt entsteht, wie er von den Elterntieren vererbt wird und was genau zu beachten ist. Auch der Einfluss der Epigenetik (Beeinflussung der Genaktivität durch Umwelteinflüsse) wird erklärt.
Um zu vermeiden einen betroffenen Hund oder einen Träger-Hund bei eine:r Züchter:in zu erwerben, ist es sinnvoll, dass die zukünftigen Elterntiere vor der Wurfplanung auf den MDR1 Gendefekt getestet wurden und als zukünftige/r Besitzer:in ausschließlich einen Welpen aus einer Verpaarung “+/+ und +/+” zu wählen, weil hier ausschließlich trägerfreie Welpen “+/+” zur Welt kommen.
- Eine Verpaarung von “+/+ und +/-” hingegen wird 50% Träger-Welpen im Wurf haben.
- Die Verpaarung “+/- und +/-” ergibt 50% Träger-Welpen und 25% betroffene Welpen.
- Elterntiere einer “+/- und -/-” Verbindung werden 50% Träger-Welpen und leider 50% betroffene Welpen haben.
Was bedeuten diese “Plus-Minus-Kürzel” genau?
Es gibt drei Kategorien von Hunden:
- Nicht betroffene Hunde und bezogen auf den MDR1 Gendefekt gesund: +/+ (N/N)
- Träger-Hunde: +/- (N/MDR1): Ein Gen ist von der Mutation betroffen
“Dies kann bereits zu Problemen führen, sowohl hinsichtlich den körpereigenen wie auch den körperfremden Substanzen, die durch das P-gp (P-Glykoprotein) transportiert werden. Leider gibt es (noch) zu wenige Studien zu Trägertieren und bis die Auswirkungen der +/- Kombination nicht vollumfänglich dokumentiert sind, muss zwingend von einer Verpaarung mit Trägerhunden abgesehen werden.” (S.70) - Betroffene Hunde: -/- (MDR1/MDR1)
“Durch die Genmutation ist der Hund nun nicht mehr in der Lage, das enorm wichtige P-Glykoprotein zu bilden. Neben dem Vergiftungsrisiko durch Arzneimittel wird dieser Hund also mit großer Wahrscheinlichkeit stressanfälliger sein als freie Hunde.” (S. 70/71)
Um wirklich sicher zu sein (Internetseiten und Papiere sind geduldig) ist es sinnvoll Hunde der betroffenen Rassen und Mischlinge daraus grundsätzlich und möglichst früh mittels Blutentnahme beim Tierarzt auf den MDR1 Gendefekt testen zu lassen.
Die Laborkosten belaufen sich je Test bei auf 70,21 € (Stand Februar 2022):
ERZIEHUNG, TRAINING UND VERHALTEN – UMGANG MIT STRESSSENSIBILITÄT
Im “Erziehungs- bzw. Trainingsteil” des Buches “Betroffener Hund – was nun?” werden auf S. 82-90 vier verschiedene Hundepersönlichkeiten des stabilen und instabilen A- und B-Typs eingegangen. Diese Struktur soll dazu dienen Wahrscheinlichkeiten für impulsive Verhaltensreaktionen auf Stressauslöser oder empfundene bedrohliche Situationen des Hundes über ein Persönlichkeitsprofil auszumachen. Eine Quellenangabe für die Einteilung der Hundetypen habe ich im Buch nicht gefunden. Auf Nachfrage per E-Mail bekam ich prompt und sehr nett folgende Antwort: “Dazu gibt es keinen literarischen Nachweis. Die Typeneinteilung habe ich im Rahmen der Hundetrainerausbildung von meinen Dozenten gelernt (u.a. PD Udo Gansloßer).”
Anstatt dieser Kategorisierung hätte ich mir einen ausführlichen Anamneseteil gewünscht, der dabei hilft den individuellen Hund und seine Lebenssituation genau zu betrachten und zum Beispiel folgende Kernfragen stellt:
- Welche Bedürfnisse hat er und wie können sie unter Berücksichtigung der Bedürfnisse aller anderen Familienmitglieder bestmöglich erfüllt werden?
- Wie sind seine Alltags- und Lebensbedingungen (Stress-/Angst-/Aggressionsauslöser) – und was kann ggf. verbessert werden?
- Wie ist der Umgangs- und Trainingsstil im Allgemeinen?
- Gibt es weitere medizinische Ursachen, die zunächst geklärt und behandelt werden müssen?
- Welche begleitende Maßnahmen und Hilfestellungen im Alltag können das Zusammenleben mit einem stresssensiblen ggf. reaktiven Hund erleichtern?
- Bedarf es Unterstützung durch eine Trainer:in und die Haus- oder Fachtierärzt:in?
Einzelne Wörter und Beschreibungen in diesem Kapitel haben mich irritiert. Da ich zunächst davon ausging, dass die Autorin als Hundehalterin schreibt (persönlicher Erfahrungsbericht als Vorwort), habe ich aufgrund meiner Verwunderung auf der Webseite der Autorin erfahren, dass sie als Trainerin tätig ist und folgende Beschreibung bei der Qualifikation/Philosophie gefunden: “Verschiedene Literatur in buch- und bildform, Seminare, Weiterbildung und vor allem das eigene Rudel haben mir Wege aufgezeigt, wie man sich mit Hunden verständigt, Rangordnungsfragen klärt und das Zusammenleben entspannt und ausgeglichen gestalten kann.”.
Die Kernaussage im Kapitel “Betroffener Hund – was nun?” in Bezug auf Umgangsstil und Training verstehe ich so, dass es weder möglich noch sinnvoll ist, einen betroffenen Hund komplett von jeglichen Stressauslösern fernzuhalten. Außerdem ist es wichtig, ihn achtsam zu führen und zu begleiten, Training anzupassen und die individuelle Sensibilität in der Alltags- und Lebensgestaltung zu berücksichtigen.
Mir kam zu wenig heraus, dass für stressempfängliche und/oder reaktive Hunde neben der Achtsamkeit im Alltag auch ein besonders strukturiertes, kleinschrittiges, belohnungsbasiertes Training in Kombination mit Managementmaßnahmen und vor allem ggf. auch einer (Verhaltens-)medizinischen Betreuung wichtig ist. Strafbasiertes, zu großschrittiges oder unstrukturiertes belohnungsasiertes Training oder “mal-so-mal-so-Training” (umgangssprachlich Zuckerbrot und Peitsche) hingegen verschlimmert in der Regel die Stressbelastung eines ohnehin eingeschränkten Hundes. Da dies vermutlich den Rahmen des Buches und Themas sprengen würde, empfiehlt sich weiterführende Literatur, zum Beispiel: “Hunde achtsam führen – Über belohnungsbasiertes Training und bedürfnisorientierten Umgang”, von Maria Rehberger.
WAS ALSO IST ZU TUN, WENN ICH EINEN BETROFFENEN HUND ODER TRÄGERHUND HABE?
- Vor jeder Tierarztbehandlung die Tierärzt:in informieren.
- Hinweis auf den MDR1 Gendefekt auf der Titelseite des Heimtierpasses besonders hervorgehoben und gut sichtbar anbringen.
- Liste der Arzneimittel und Substanzen griffbereit haben und vor jeder Medikamenten- und Präparatsgabe sorgfältig kontrollieren.
- Den Hund von Pferdeäpfeln und Schafskot fernhalten und das zuverlässige Weitergehen an Kot sorgfältig belohnungs- und bedürfnisorientiert trainieren “Anti-Giftköder-Training” (Ivermectin zur Parasitenbekämpfung in Präparaten für Pferde und Schafe)
- Haltungsbedingungen, Bedürfnisbefriedigung, Umgang und Training individuell auf die ggf. erhöhte Stressbelastung anpassen (ggf. unterstützend eine erfahrene, kompetente gewaltfrei arbeitend Hundetrainer:in hinzuziehen)
Das Buch schließt mit der Beantwortung der Fragen, ob eine Kastration bei betroffenen und Trägerhunden generell sinnvoll ist, was Besitzer:innen betroffener Hunde tun können (Tagesablauf, Rahmenbedingungen, Training, Haltungsbedingungen, Umgangsstil und Ernährung) und geht auf stressbedingte Folgeerkrankungen ein.
FAZIT:
Das Buch “Der MDR1 Gendefekt” ist für Hundehalter:innen in leicht verständlicher Sprache geschrieben und fasst alle wichtigen Informationen rund um die Erbkrankheit zusammen. Die Zusammenhänge werden anschaulich erklärt und die kritischen Medikamente/Präparate werden übersichtlich aufgelistet (z.B. als Kopiervorlage für den Heimtierpass geeignet). Wer einen betroffenen Hund hat, hat nach dem Lesen des Buchs hoffentlich mehr Verständnis für die Empfindsamkeit seines Hundes bzw. das ungewöhnliche Verhalten in manchen Situationen.
Der MDR1 Gendefekt und das daraus resultierende Leid kann durch umsichtige, sorgfältige Zucht vermieden werden – und es liegt auch an uns Hundehalter:innen Züchter:innen sorgsam auszuwählen und entsprechende Gesundheitsnachweise der Elterntiere einzusehen.
Ein Must-have für alle, die einen Hund der betroffenen Rassen haben oder sich einen anschaffen möchten und für alle Hundeverhaltensexpert:innen, die beruflich mit betroffenen Hunden oder Rassen zu tun haben. Für mich war es eine Bereicherung, dieses Buch zu lesen und alle Infos kompakt zusammen zu haben! EasyDogs-Insidertip!
VERLAGSINFO:
- Hier kaufen
- Autor: Daiela Rettich
- Verlag: epubli
- Umfang: 156 Seiten
- Sprache: deutsch
- ISBN:978-3754141687
- Preis: 34,99 €
WEITERFÜHRENDE INFORMATIONEN:
Problematische Wirkstoffe und Medikamente (Buch, S. 58-59):
Webseite der Autorin:
- https://www.mdr1gendefekt.com
- Online-Seminare zum Thema
Weiterführende Links:
- https://de.wikipedia.org/wiki/MDR1-Defekt
- https://www.tierarzt-rueckert.de/blog/details.php?Kunde=1489&Modul=3&ID=19426
- https://mdr1-defekt.transmit.de/mdr1-defekt-beim-hund
- http://hundemagazin.ch/neues-zum-mdr1-defekt/
Zum Thema Merle-Zeichnung und Genetik:
- Das Geheimnis der Merle-Zeichnung, Laura Längsfeld:
- https://smoothcolliefan.wixsite.com/diekurzhaarcollies/post/geheimnis-der-merle-zeichnung?fbclid=IwAR3vgn5JkH-LbnoVQngTE5Xd-u31ykNRGD0o_SABOwgs5Lq7DpHMvjmaReE
- Empfehlenswertes Buch: https://www.merle-sine-insertion-from-mc-mh.com/order/