“Problemhund” Loki – ein Fall für die Verhaltenstherapie
WAS TUN BEI HYPERAKTIVITÄT, SCHWANZJAGEN, SELBSTVERLETZUNG UND NICHT ZUR RUHE KOMMEN?
Die meisten Menschen, die mich um Hilfe mit ihrem Hund bitten tun das, weil ihr Hund mehr oder weniger problematisches Verhalten zeigt. Ganz oft ist es so, dass der Hund normales Hundeverhalten zeigt, z.B. Angst vor Menschen und Hunden hat und als Strategie verbellen, schnappen oder sogar beißen gewählt hat, um sich selbst zu schützen. Diese Hunde können lernen, dass Ihr Verhalten nicht notwendig ist, ich kann ihren Menschen dabei helfen ihnen Stück für Stück die Angst zu nehmen und wie sie ihren Hunden Strategien vermitteln können, auf die sie zurückgreifen können, wenn sie doch einmal Angst bekommen, die gesellschaftlich akzeptiert sind und Hund und Bezugsperson nicht in Teufels Küche bringen. Eine gute Mischung aus der Vermittlung von Wissen und Trainingstechniken, von passendem Umgang und der Optimierung der Lebensumstände bringt in den meisten Fällen eine schnelle und nachhaltige Besserung. Eine Verhaltenstherapie im eigentlichen Sinne ist normalerweise nicht notwendig.
Aber es gibt diese Fälle und ich kann nicht alles. Meine Kompetenzen haben Grenzen. Mir dessen bewusst zu sein, ist für mich eine der wichtigsten persönlichen Fähigkeiten, die ich als Beratende mitbringen muss. Mein Ziel ist es, dem Hund und seinen Menschen so schnell wie möglich zu helfen, denn bei den Fällen, mit denen ich es in der Regel zu tun habe, leiden beide oft in erheblichem Maß. Ich brauche also Unterstützung von außen, meistens von Tierärzt/innen, Verhaltensmediziner/innen (Verhaltensmediziner/innen sind speziell ausgebildete Tierärzt/innen; unter http://www.gtvmt.de/ finden Sie eine Liste entsprechender Kontakte), Osteopath/innen und Physiotherapeut/innen, manchmal von allen zusammen.
So auch in Lokis Fall. Loki ist ein Französischer Bulldoggenmix und im April 2018 geboren. Ihn hatte ich zuletzt drei Wochen zuvor gesehen. Bei unserem Wiedersehen hatte ich vor Freude und Rührung das Wasser in den Augen stehen. Kennengelernt hatte ich ihn und sein Frauchen im Januar 2020, beim Seminar “Mehr Gelassenheit im Alltag und beim Training” und ja, Loki war da genau richtig. Er war mehr in der Luft als auf allen Vieren, kannte quasi nur Vollgas und die Leine losmachen war kaum möglich, weil Loki einfach jedem Impuls direkt gefolgt ist. “Oh, da hinten ist was, da renn ich mal hin, nein warte, was ist denn das da drüben, ach guck mal, eine McDonalds-Tüte…”
Das Etikett “hyperaktiv” wäre bei Lokis Verhalten wirklich berechtigt gewesen und auch wenn er lustig und freundlich war, er wirkte wahnsinnig getrieben. Was aber am Schlimmsten für Loki und auch sein Frauchen war, ist dass er bei Stress in ein Zwangsverhalten abgekippt ist: Er begann dann massiv seinen Schwanz zu jagen und auch hineinzubeißen. So heftig, dass es Verletzungen gab. Unterbrechbar war dieses Verhalten manchmal gar nicht und wenn dann nur sehr schwer. In der Regel musste sein Frauchen ihn lange gut festhalten und ihm vollen Körperkontakt bieten, weil er sonst sofort wieder mit dem Verhalten begonnen hätte. Überhaupt war Ruhen und Entspannen nur mit Vollkontakt möglich. Alleine auf der Couch oder gar in seinem Körbchen liegen und dösen – undenkbar. Für Lokis Frauchen war das eine extreme Belastung: Hilflos daneben stehen, nichts tun können, während der eigene Hund sich selbst verletzt, außer ihn im schlimmsten Fall über Stunden auf dem Arm zu halten. Fragen und Selbstzweifel tauchten bei ihr auf: “Was mache ich falsch? Würde er sich anderswo anders verhalten, wäre er anderswo besser aufgehoben? Wie soll das weitergehen, wie enden?”
Mein Job ist es da erst mal aufzufangen und die Situation genau unter die Lupe zu nehmen. Was ich gesehen habe war, dass Lokis Frauchen extrem viel richtig machte! Sie hatte sich schon sehr sehr viel Wissen angeeignet, ihr Umgang mit Loki war so, wie ich es mir für jeden Hund wünschen würde und auch ihr Training war schon auf einem richtig guten Niveau. Daran konnte es also nicht wirklich liegen. Ein bisschen haben wir noch geschraubt, aber so viel war da nicht zu tun und die Fortschritte waren minimal. In solchen Fällen knicken viele Leute ein und kommen zu dem Schluss, dass “dieses positive Training halt bei gewissen Hunden doch nix ist und dass man bei manchen Hunden eben andere Saiten aufziehen und klare Grenzen setzen muss”.
Nicht so Lokis Frauchen. Sie hat sich – trotz ihrer Ängste und Sorgen – dafür entschieden eine der Verhaltensmedizinerinnen mit ins Boot zu holen, mit denen ich zusammenarbeite. Bevor allerdings die Verhaltensmedizinerin dran war, wurde Loki beim normalen Tierarzt untersucht, ein Allergietest wurde in Auftrag gegeben und es wurde ein Blutbild gemacht, um zu schauen, ob er organisch gesund ist, vor allem auch, wie es mit den Schilddrüsenwerten aussieht. Niedrige Schilddrüsenwerte sind oft mit im Spiel, wenn es um Verhaltensauffälligkeiten geht und dies wiederum erfordert weiterführende Untersuchungen. Bei Loki war im Blutbild allerdings nichts auffällig. Neben den Schilddrüsenwerten hatten wir vor allem auch die Leberwerte im Auge, denn wenn – wie bei Loki – im Raum steht, den Hund mit Psychopharmaka einzustellen, müssen die Leberwerte in Ordnung sein.
Wegen des Schwanzjagens wurde Loki außerdem auch noch von der Osteopathin meines Vertrauens begutachtet, die allerdings auch nichts gravierendes feststellen konnte. Mit diesem Ergebnis konnte dann die Verhaltensmedizinerin ihre Arbeit aufnehmen. Sie hat sich Loki beim Spaziergang angeschaut und sich von seinem Frauchen Videos des Schwanzjagens und des Verhaltens im Haus zeigen lassen. Daraufhin hat sie ein erstes Medikament ausgewählt. Mit diesem Medikament hat sich keine Besserung gezeigt – das ist so mit Medikamenten, die den Gehirnstoffwechsel beeinflussen: Man weiß nie genau, ob das gewählte Präparat auch wirklich passt, weil man eben nicht einfach mal so eben ins Gehirn rein schauen kann, was da im Ungleichgewicht ist. Und so kann es sein, dass erst das zweite oder auch dritte Medikament die gewünschte Wirkung zeigt. Die gewünschte Wirkung ist dabei NICHT, den Hund ruhigzustellen! Das war auch eine der Ängste, die Lokis Frauchen beschäftigte. Viele Hundehalter haben das Bild eines apathischen, kaum noch ansprechbaren Tieres vor Augen und fürchten sich vor einer kompletten Wesensänderung. Das ist bei den modernen Präparaten, die über einen längeren Zeitraum gegeben werden und immer von verhaltenstherapeutischen Trainingsmaßnahmen begleitet werden müssen, schlicht und ergreifend nicht der Fall! Was stattdessen passiert ist das, was für den Halter eines gesunden Hundes Normalität ist: Der Hund wird befähigt zu fokussieren, die Welt um sich herum bewusst wahrzunehmen, er wird trainierbar, wodurch sein Stresslevel dauerhaft gesenkt werden kann und er wird auch empfänglich für die Vermittlung von Strategien, um Stress selbstständig abbauen zu können, anstatt in (selbstverletzendes) Zwangsverhalten, abnormal repetitives Verhalten oder Stereotypien zu kippen. Drei Wochen vor unserem Wiedersehen hatte Lokis Frauchen dann mit einem anderen Präparat begonnen und seit dem Tag zuvor lagen die Ergebnisse des Allergietests vor: Loki hat leider mehrere Volltreffer gelandet. Aber jetzt wissen wir wenigstens Bescheid und können seine Ernährung entsprechend darauf abstimmen. :)
Und bei unserem Termin habe ich dann einen neuen Loki erlebt. Er war lustig und fröhlich wie immer, aber er war da. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig.
Er hat einen überschaubaren Radius um uns herum eingehalten, er hat viel freiwilligen Blickkontakt gezeigt, er war durchgehend ansprechbar und abrufbar, sogar aus Hundebegegnungen. Er ist gerannt und geflitzt und gedüst, er ist getrabt, gegangen und hat geschnuppert. Er hat Leckerchen gesucht, mit seinem Herrchen gecatcht und mit mir und seinem Frauchen am Spielzeug gezerrt. Er hat mich ungefähr fünf Mal leicht angehüpft, sich aber jedes Mal sofort daran erinnert, dass er nur dann die Chance auf ein Leckerchen und Zuwendung hat, wenn die Pfoten auf dem Boden bleiben. Sprich: Gestern habe ich einen ganz normalen, jungen Hund erlebt, der pure Lebensfreude ausstrahlt. Und deshalb hatte ich das Wasser in den Augen stehen.
Das Schwanzjagen ist noch nicht ganz verschwunden. Das wird noch etwas Zeit brauchen und es kann auch gut sein, dass es nie ganz verschwindet und Loki an schlechten Tagen immer wieder mal den Ansatz dazu zeigen wird. Aber schon jetzt tritt das Verhalten morgens gar nicht mehr auf, sondern nur noch abends und es ist wesentlich einfacher zu unterbrechen. Die Chancen stehen gut, dass Loki sich mit der Zeit daran erinnert, dass er ja nun auch andere Strategien zur Verfügung hat, wenn ihn etwas aufgeregt hat und er sich wieder entspannen möchte und durch das begleitende Training, das nun endlich greifen kann, wird es solche Situationen künftig auch gar nicht mehr so oft geben.
Ob Loki das Medikament dauerhaft benötigen wird, wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Das wird die Zeit zeigen. Je nachdem, wie sich Lokis Verhalten weiterentwickelt, vor allem natürlich das Schwanzjagen, werden wir in ein paar Monaten Schritt für Schritt unter den wachsamen Augen der Verhaltensmedizinerin die Dosis verringern und sehen, ob Loki auch mit weniger oder ganz ohne Psychopharmaka auskommt. Wenn nicht, dann ist das kein Beinbruch. Wenn ein Hund herzkrank ist, benötigt er ggf. auch lebenslang Medikamente. Eine Schieflage im Gehirnstoffwechsel ist nichts anderes: Es ist eine behandlungsbedürftige Erkrankung und dem Tier Medikamente vorzuenthalten, nur weil man Vorurteile hat oder nicht ausreichend gut informiert ist, ist schlicht und ergreifend tierschutzrelevant.
Meine Pflicht als Beratende ist es, die Grenzen meiner Kompetenz zu erkennen und dem Hundehalter zu vermitteln, dass wir Hilfe von außen brauchen, um dem Hund helfen zu können. Ich bin froh und dankbar, dass ich zum einen über dieses professionelle Netzwerk an kompetenten Partnern aus den verschiedenen Bereichen verfüge und dass zum anderen Menschen bei mir um Unterstützung bitten, die bereit sind für ihren Hund ihre eigenen Ängste und Sorgen zu überwinden.