Selbstbestimmtes Lernen im Pferdetraining durch positive Verstärkung
Zusätzlich zu den allgemein bekannten Grundlagenübungen, möchte ich Ihnen heute weiterführende Konzepte vorstellen. Konzepte, die dem Pferd mittels positiver Verstärkung beibringen, sich sprichwörtlich selbst zu helfen.
SELBSTBESTIMMUNG
Wie aus der Forschung bekannt ist, ist Selbstbestimmung ein Grundbedürfnis für alle Lebewesen und damit auch ein sehr mächtiger Verstärker. Die Wahl zu haben und Entscheidungen treffen zu dürfen, trägt viel zur seelischen Ausgeglichenheit und damit auch der körperlichen Gesundheit bei. Außerdem fördert es die innere Motivation, was Einfluss auf den Spaß an der Arbeit und vor allem die Beziehung hat.
Als Selbstbestimmung wird bezeichnet, in welchem Ausmaß das eigene Verhalten eine Auswirkung auf die Umgebung hat. Das beginnt bereits bei der Tagesgestaltung, der Nahrungsaufnahme, der Wahl zwischen Ruhezeit, Sozialkontakt und Bewegung und auch, in welchem Rahmen es dem Pferd ermöglicht wird, an der Gestaltung des Trainings mitzuwirken.
Im konventionellen Pferdetraining gibt es eine klare Entscheidungshierarchie. Die Entscheidungsfreiheit der Pferde kommt in diesem System leider oft zu kurz. Der Mensch bestimmt, teilweise auf die Minute genau, über den Tagesablauf des Pferdes, die Futterart und -menge, die Sozialkontakte, bis hin zu den detailliertesten Bewegungsabläufen im Training. Diesen Ansatz möchten wir natürlich beim Training mit positiver Verstärkung vermeiden. Die Pferde sollen aus freien Stücken und mit Freude an der Arbeit mit uns interagieren. Dabei geht es nicht darum, sämtliche Entscheidungen dem Pferd zu überlassen, sondern darum, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten auf die Bedürfnisse des Pferdes einzugehen. Durch die konsequente Arbeit mit Futter als Verstärker ist dies auch in vielen Fällen scheinbar leicht zu erreichen – und doch gibt es einige Stolperfallen, die auf den ersten Blick gar nicht so offensichtlich erscheinen.
HAT DAS PFERD BEIM TRAINING MIT POSITIVER VERSTÄRKUNG NICHT IMMER DIE FREIE WAHL?
Auch wenn das auf den ersten Blick so scheinen mag, gibt es auch beim Training mit positiver Verstärkung viele Möglichkeiten, das Tier in seiner Wahlfreiheit einzuschränken. Das beginnt schon mit dem Übungsaufbau, den wir im Normalfall so gestalten, dass das Tier das (von uns) gewünschte Verhalten fehlerfrei zeigen kann. Doch was, wenn nicht? In der Regel wird die Trainer:in ihr Können und Wissen dafür einsetzen, dem Pferd das Verhalten so verlockend wie möglich zu machen. Dabei geht es in erster Linie darum, die Bedürfnisse (Ziele) der Trainer:in zu befriedigen, und erst an zweiter Stelle um die Bedürfnisse des Pferdes. Sollte man ein Trainingsziel um jeden Preis verfolgen?
Eine weitere, sehr häufig im Training anzutreffende Vorgehensweise ist das Bestehen der Trainer:in auf eine Übung. Im konventionellen Pferdetraining ist das recht einfach zu erkennen, das Pferd wird z.B. Runde um Runde longiert, bis es endlich den Hals fallen lässt. Doch auch im Training mit positiver Verstärkung ist dieser Ansatz häufig zu beobachten. Das Pferd wird immer wieder mit einer Übung konfrontiert, bis das Ziel erreicht ist. Der dahinter verborgene Druck bzw. Anspruch an das Pferd ist zwar sehr subtil, aber dennoch vorhanden, und kann im schlimmsten Fall, wie alle konventionellen Ausbildungsansätze auch, zu Stress- und Abwehrreaktionen führen. Diese können sich zum Beispiel direkt durch Einfrieren, Schnappen, Rempeln, Treten, Buckeln oder Losreißen äußern, oder auch indirekt, wie zum Beispiel durch stereotype Verhaltensmuster, wie Koppen oder Weben.
ABER ES REAGIEREN DOCH GAR NICHT ALLE PFERDE SO?
Nein, natürlich nicht. Je nach charakterlicher Veranlagung, Aufzucht und Haltung hat das Pferd andere Strategien entwickelt, mit solchen im Training vorhandenen Stressfaktoren umzugehen. Wenn es grundsätzlich den Großteil des Tages (und der Zeit mit seiner Trainer:in) ein großes Maß an Entscheidungsfreiheit hat, werden solche kleinen Einschränkungen wahrscheinlich nicht einmal auffallen. Wenn jedoch die Haltungsbedingungen (z.B. krankheitsbedingt) viele Einschränkungen erfordern, kann der zusätzliche Druck im Training zu viel sein. In diesem Fall kann es ebenfalls zu den, bereits weiter oben beschriebenen Stress- und Abwehrreaktionen kommen.
WIE KANN ICH MEINEM PFERD MEHR MITSPRACHERECHT EINRÄUMEN, OHNE DASS ES MIR AUF DER NASE HERUMTANZT?
Vorneweg – Pferde arbeiten im Normalfall gerne mit uns Menschen zusammen und nehmen dafür vieles in Kauf. Kein Pferd tanzt also den Personen in seinem Umfeld absichtlich auf der Nase herum, um sie zu ärgern oder gar zu dominieren. Wie jedes andere Lebewesen auch, lernen die Pferde im Lauf ihres Lebens aber durchaus Strategien, um mit unheimlichen, stressigen oder auch unangenehmen Situationen umzugehen – und diese Reaktionen sind meist nicht die, die vom Menschen als angemessen oder ungefährlich bezeichnet werden. Doch auch Pferde können lernen, sich mitzuteilen, ohne potenziell gefährlich zu werden!
Die folgenden vier Konzepte bieten dem Pferd die Möglichkeit mit dem Menschen zu kommunizieren und machen das Training für beide Seiten sicherer, da viele Stress- und Übersprungshandlungen somit verhindert werden können. Übersprungshandlungen sind Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick vollkommen zusammenhangslos erscheinen, wie zum Beispiel der plötzliche Drang sich zu kratzen oder zu putzen, die aber bei genauerem Hinsehen dazu dienen, eine Konfliktsituation zu unterbrechen und zu entschärfen.
DAS STANDARDVERHALTEN (BASIS-/RÜCKFALL-VERHALTEN)
Jedes Pferd sollte zu Beginn der Trainingsgeschichte ein so genanntes Standardverhalten lernen. Damit ist eine Verhaltensweise gemeint, die die Ausgangsbasis für jede weitere Interaktion mit der Trainer:in ist – und gleichzeitig auch gezeigt werden kann, wenn das Pferd z.B. den aktuellen Übungsschritt nicht versteht. Wichtig für das Standardverhalten ist, dass es nicht aktiv durch ein Signal der Trainer:in ausgelöst (gefordert) wird. Vielmehr ist das Standardverhalten die Grundvoraussetzung für jeden einzelnen Trainingsschritt.
Ein mögliches Standardverhalten könnte zum Beispiel das ruhige Stehen mit Blickkontakt zum Menschen sein, oder, in der Bewegung, ein ruhiger, gleichmäßiger Schritt. Wenn das Pferd also keine weitere Information von seiner Trainer:in bekommt, oder diese nicht versteht, kann es ihr so mitteilen: „Ich weiß gerade nicht, was ich machen soll, bitte gib mir weitere Informationen.“ Besonders für Pferde, die dazu neigen, mittels Scharren oder Schnappen auf sich aufmerksam machen zu wollen, ist dies eine der wichtigsten Übungen.
DAS INITIATORSIGNAL BZW. KOOPERATIONSSIGNAL (*)
Besonders im Medical Training oder bei der Arbeit mit emotional vorbelasteten oder potenziell verunsichernden/stressigen Übungen ist das so genannte Initiatorsignal eine wertvolle Trainingshilfe. Hierbei lernt das Pferd, dass der nächste Übungsdurchgang erst erfolgt, wenn es zeigt, dass es dafür bereit ist. Hierbei bietet sich je nach Kontext, zum Beispiel das Kopfsenken, oder auch das Berühren eines stationären Targets, an. Indem das Pferd dieses Verhalten zeigt, kann es dem Menschen signalisieren, „Ich bin bereit, es kann losgehen!“ Dieses Signal ist besonders bei der Erarbeitung von neuen Übungen sinnvoll, da es dem Pferd zwischendrin immer wieder die Möglichkeit gibt, das gerade Gelernte zu verarbeiten.
* Bina Lunzer
DAS ZUSTANDSSIGNAL
Das Zustandssignal ist eine einfach für das Pferd auszuführende Übung mit Belohnungshistorie. Der Unterschied zum Standardverhalten oder Initiatorsignal ist, dass das Zustandssignal durchaus ein Bestandteil der aktuellen Übung oder ein abgefragtes Verhalten sein kann.
Stellen Sie sich das Zustandssignal wie einen Messwert vor. Die Reaktion auf diese Anfrage gibt uns wertvollen Aufschluss über den aktuellen Trainingsstatus. Die Verschlechterung oder das Ausbleiben der Reaktion auf das Zustandssignal ist das Signal an den Menschen, in diesem Moment die Kriterien der Übung nicht zu steigern. Eine freudige und prompte Ausführung hingegen deutet darauf hin, dass das Pferd auch mit Zuversicht den nächsten Schritt im Training gehen kann. Anders formuliert ist das Zustandssignal eine Frage an das Pferd, „Kannst du, auch in Gegenwart dieser Spritze in meiner Hand, das Target an der Wand berühren? Super, dann können wir einen Schritt weiter gehen.“
Das Zustandssignal ist ganz besonders wertvoll für Pferde, die bei Stress zum Erstarren neigen, und dann oft als stur oder faul bezeichnet werden, da sie nicht mehr in der Lage sind, auf bekannte Signale zu reagieren.
DAS ALTERNATIVVERHALTEN
Das Wort Alternativverhalten begegnet einem in der Trainingsliteratur häufig, wenn es darum geht, ein problematisches Verhalten des Tieres durch eine angemessenere und ungefährlichere Verhaltensweise zu ersetzen. Dabei geht es darum, das aktuelle Bedürfnis des Tieres (z.B. nach mehr Distanz), zu befriedigen. Für mich hat das Alternativverhalten auch noch eine andere Anwendung, und zwar als eine Art “Nein, Danke-Antwort” des Tieres auf ein von der Trainer:in gegebenes Signal – falls es dieses gerade aus diversen Gründen nicht ausführen kann oder möchte. Denn nicht immer ist es für die Trainer:in auf den ersten Blick ersichtlich, warum ein Pferd einem gegebenen Signal (das normalerweise gut bekannt ist) nicht folgt. Wenn ein Pferd sich zum Beispiel weigert, anzutraben, da es Schmerzen hat, wäre es ja wünschenswert, wenn es uns das auch schon mitteilen könnte, ohne dass wir es erst Lahmen sehen müssen. Und wäre es nicht auch schön, wenn das Pferd bei beginnendem Satteldruck durch einen unpassend gewordenen Sattel die Möglichkeit hätte, dies bereits beim Satteln mitzuteilen, ohne erst einen ausgeprägten Sattelzwang zu entwickeln? Mit dem Alternativverhalten bekommt das Pferd die Möglichkeit zu sagen, „Ja, ich habe dein Signal verstanden, ja, ich möchte mit dir zusammenarbeiten, aber nein, ich kann das gerade jetzt und in diesem Moment nicht.“ – und zwar ohne dass es auf potenziell gefährliche Verhaltensweisen wie Losreißen oder Beißen, zurückgreifen muss.
ABSCHLIEßENDE GEDANKEN
Das Training der beschriebenen Konzepte erfordert eine gewisse Vorerfahrung in der
Trainingsgestaltung und der Interpretation der Reaktionen des Tieres. Sollten Sie sich weitergehend mit diesen Themen befassen wollen, empfehle ich Ihnen das vorherige Lesen passender Fachliteratur und/oder das Hinzuziehen einer kompetenten Trainer:in. Eine Auswahl empfehlenswerter Bücher finden Sie bei den Easy Dogs Buchrezensionen.
Jede selbstbestimmte Entscheidung, die das Pferd im Umgang mit uns treffen kann, führt langfristig zu seelischer Gesundheit, Motivation im Training und einer tiefen Bindung zu “seinem” Menschen.
(Beitrag aktualisiert: Juni 2024)