Die konditionierte Entspannung beim Hund – Aufbau, Anwendung im Alltag und Fehlerquellen im Training
VORTEILE DER KONDITIONIERTEN ENTSPANNUNG BEIM HUND
Manchmal haben wir viel Zeit, uns gemeinsam mit unserem Hund zu entspannen. Ein anderes Mal aber bräuchten wir die Möglichkeit, den Hund blitzschnell von der Palme herunterzuholen, auf den ihn Umweltreize gebracht haben. Diese Reize können vom Hund als Bedrohung wahrgenommen werden oder aber es ist der Anblick eines Lieblingsspielzeuges, eines Hasen oder der Hundegruppe. Übererregung kann in allen möglichen Situationen auftreten und wir benötigen ein Werkzeug, das möglichst einfach in all diesen verschiedenen Situationen gezielt von uns eingesetzt werden kann.
Erregung und Entspannung sind Funktionen des Gehirns. Für das Verständnis der konditionierten Entspannung spielt eine Struktur im Hirnstamm eine besondere Rolle: Formatio reticularis. Dies ist ein komplexes Netzwerk von Neuronen und Fasern; es enthält Informationen aus vielen verschiedenen Gehirnbereichen und vermittelt verschiedene Funktionen wie die Regulation von Aktivität und Aufmerksamkeit. Ein Teil der Formatio reticularis kann als Schalter zwischen zwei verschiedenen Zuständen betrachtet werden. Es gibt den „denkenden Zustand“, in dem das Tier bewusst nach Lösungsmöglichkeiten sucht und den „reflexiven Zustand“. Dieser ist gekennzeichnet durch den Ablauf von automatischen Reaktionen, die nur schwer willentlich beeinflusst und von außen gestoppt werden können, wie z.B. Flüchten oder Attackieren.
Für uns ist es wesentlich, einen Hund möglichst oft und lange im „denkenden Zustand“ zu halten. Allerdings ist das Gehirn darauf eingerichtet, bei steigendem Erregungsniveau vom „denkenden Zustand“ in den „reflexiven Zustand“ zu wechseln; dieser Wechsel wird von der Formatio reticularis gesteuert. Unser Ziel ist es also, überhaupt zu verhindern, dass der Schalter kippt und unser Hund in den reflexiven Zustand gerät. Oder aber wir sollten den Schalter so schnell wie möglich betätigen, um den reflexiven Zustand zu beenden. Dabei hilft uns ein Hormon.
DIE ROLLE DES HORMONS OXYTOCIN BEI DER KONDITIONIERTEN ENTSPANNUNG
Beim Aufbau der konditionierten Entspannung spielt das Hormon Oxytocin eine bedeutende Rolle. Oxytocin ist unter anderem verantwortlich für soziale Bindung und Entspannung. Seine komplexe Wirkung entfaltet es tief im Gehirn, aber der Anfang dieser Wirkungen liegt oft an der Oberfläche – in der Haut. In der Haut befinden sich unzählig viele Nervenendigungen, die der sensorischen Wahrnehmung dienen. Für unterschiedliche Berührungsreize sind verschiedene Fasern zuständig; so aktiviert ein Biss andere sensorische Fasern als Streicheln.
Sanfte Berührungen aktivieren Fasern vom Typ A-beta. Sie leiten diese Information in das Gehirn weiter, wo sie als angenehme Berührung wahrgenommen werden und zu einem Anstieg des Oxytocin-Spiegels führen. Dieser Anstieg wirkt allgemein entspannend. Im Detail ist der Zusammenhang zwischen Berührung und Oxytocin von Dr. Kerstin Uvnas-Moberg untersucht worden. Sie stellte unter anderem fest, dass nicht nur sanfte Berührungen, sondern auch leichte Vibrationen und Wärme zu einer Oxytocin-Ausschüttung im Gehirn führen. Wir haben also die Möglichkeit, direkt von außen die Oxytocin-Ausschüttung im Gehirn zu stimulieren. Von hier bis zur konditionierten Entspannung bedarf es nur noch eines kleinen Schrittes – und den machen wir mit Hilfe der ältesten Form des Lernens, mit der klassischen Konditionierung.
SO LERNT DER HUND DIE KONDITIONIERTE ENTSPANNUNG – VERKNÜPFUNG VON REIZ UND ZUSTAND
Klassische Konditionierung wirkt immer. Indem wir ein Signal (wie “Easy”) mit dem unkonditionierten Reiz (z.B. Massage) und der daraus folgenden Entspannung verknüpfen, erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit, dass sich dadurch mit dem Signal “Easy” Entspannung direkt abrufen lässt. Im Prinzip lassen sich alle physiologischen Prozesse durch klassische Konditionierung mit Aussenreizen verbinden, so auch Erregung und ihr Gegenstück, die Entspannung. Jeder kennt folgendes Phänomen: Hunde reagieren auf der Fahrt zum Übungsgelände (=Aussenreiz) immer früher mit Erregung (= physiologischer Prozess). Hier wirkt klassische Konditionierung!
1. Direkte Entspannung durch Massage, Streicheln oder Bürsten auslösen
Direkte Entspannung ist am leichtesten zu praktizieren durch Massieren, Streicheln und Bürsten (weiche Bürsten eignen sich gut). Es macht wenig Sinn, bestimmte Massage-Techniken zu favorisieren, weil Hunde extrem unterschiedlich reagieren können. Entscheidend ist: finde eine Möglichkeit der Berührung, die den Hund innerhalb weniger Minuten zum Schmelzen bringt. Das Erreichen eines entspannteren Zustandes kann der aufmerksame Beobachter zuerst im Bereich der Wirbelsäule erkennen, bei vielen Hunden entspannt sich die Rute zuerst. Nachfolgend schreibt der Entspannungsprozess dem Hund die Anzeichen ins Gesicht: die Muskulatur der Kiefer entspannt, der Blick wird ganz weich. Ein wenig später ist der ganze Körper so entspannt, dass der Hund sich auf die Seite legen kann.
Achtung! Es geht nicht darum, den Hund stundenlang zu massieren, es geht um einen schnellen Zugang zu einem entspannteren Zustand. Hat man herausgefunden, mit welchen Berührungen ein Hund innerhalb weniger Minuten entspannt wird, geht man nach folgendem Muster vor: zuerst sagt man das neue Wort, beginnt danach mit der entspannenden Berührung; diese löst den Entspannungsprozess aus.
2. Verknüpfung des Entspannungswortes mit Entspannung (Trainingsaufbau)
Bei diesem Aufbau ist das neue Wort der zu konditionierende Reiz, die Berührungen lösen unkonditioniert den physiologischen Prozess der Entspannung über die Oxytocin-Ausschüttung im Gehirn aus. Nach einigen Wiederholungen löst alleine das Wortsignal einen entspannteren Zustand aus: es ist zu einem konditionierten Reiz für Entspannung geworden (siehe Schematische Darstellungen des Lernprozesses).
3. Entspannungswort löst direkt Entspannung beim Hund aus (Anwendung)
Ein konditionierender Effekt tritt auch dann auf, wenn während des entspannten Zustandes das zu konditionierende Wort immer wieder gesagt wird. Diese einfache Möglichkeit ist dann die Rettung, wenn ein Hund sich durch Anfassen nicht entspannen lässt. Jeder Hund ist irgendwann im Verlauf des Tages entspannt – diesen Zustand kann man abwarten und mit dem Wort verknüpfen.
Konditionierte Entspannung bedeutet nicht, dass der Hund auf die Seite fällt und schläft. Es bedeutet, dass sein Erregungsniveau ein wenig absinkt und er dadurch wieder auf unsere Signale reagieren kann. Soll ein Hund in einer Situation für einen längeren Zeitraum entspannt werden, eignen sich die Techniken der direkten Entspannung besser als die konditionierte. Zeigt ein Hund vermehrt Erregung, reagiert er nicht mehr gut auf bekannte Signale seines Menschen, bietet keinen Blickkontakt mehr an, zerrt an der Leine, hechelt, speichelt oder läuft hektisch hin und her, dann sollte sein Gehirn mit dem assoziierten Entspannungswort in den „denkenden Zustand“ zurückgebracht werden. In diesem Zustand wird es dem Hund wieder möglich sein, erlerntes Alternativverhalten auszuführen und dadurch wieder ruhiger zu werden.
Reagiert er nicht mehr auf das Entspannungswort, so sollte ihm direkt durch Bürsten und Massieren geholfen werden. Ist dies nicht möglich, kann man wenigstens eine andere Richtung einschlagen, ganz umkehren oder die erregenden Reize entfernen.
Neben einem Wort kann jede andere Reizqualität mit Entspannung verknüpft werden. Praktikabel sind optische Reize wie eine besondere Decke, taktile Reize wie ein Stoffhalstuch oder eine bestimmte Berührung, und ganz besonders olfaktorische Reize. Gerüche haben im Entspannungstraining eine so große Bedeutung, dass ihnen ein eigener Artikel zugedacht ist. Besonders wichtig wird die konditionierte Entspannung bei der Regulation von Spielverhalten. Egal, ob der Hund mit Spielzeug oder mit anderen Hunden spielt, ein zu starker Erregungsanstieg ist oftmals die Ursache für unerwünschtes Verhalten. Gerade Spielgelegenheiten werden durch ungeschicktes Training rasch zu konditionierten Auslösern von Erregung. Bis zu einem gewissen Grad ist das ja auch erwünscht, bei zu viel Erregung aber werden die Hunde zu Spielzeug-Junkies oder zu groben Spielern. Jeder starke Erregungsanstieg beim Spielen kann durch konditionierte Entspannung unterbrochen werden.
Es ist von Bedeutung, den Hunden nach dem Entspannungssignal weitere Informationen zur Verfügung zu stellen, um das Erregungsniveau weiterhin niedriger halten zu können. Es macht einen riesigen Unterschied, ob Spielverhalten durch Hemmung oder Impulskontrolle beendet wird, oder ob der Hund seine Spielpartner, sein Spielzeug in einem entspannteren Zustand wahrnehmen kann, bevor die Spielgelegenheit ganz verschwindet. Sowohl Verhaltenshemmung als auch Impulskontrolle steigern das Erregungsniveau! Natürlich ist es toll, einem hoch erregten Hund das Spielzeug wegnehmen zu können. Aber gerade durch dieses Vorgehen wird das Spielzeug immer wieder mit Erregung verknüpft.
Während des Spiels und nach dem Spiel – Spielzeug erscheint für das Hundegehirn immer nur mit Erregung verbunden zu sein. Die Lösung dieses Problems liegt nicht in der Einschränkung des Spiels, sondern in der Entspannung am Spielzeug.
FEHLERQUELLEN IM TRAINING UND BEI DER ANWENDUNG IM ALLTAG
Manchmal gelingt es nicht, Entspannung und einen entspannten Zustand mit Signalen zu verknüpfen. Oft genug liegt es an einer zu starren, rezeptartigen Anwendung des Trainingsaufbaus. Es gibt Hunde, die sich nicht durch Berührung entspannen lassen! Sie leiden entweder unter einer durch chronischen Stress empfindlich gewordenen Haut, haben Schmerzen oder ein allgemeines Distanzproblem mit Menschen. Auf diese Besonderheiten muss Rücksicht genommen werden, denn Entspannung kann sich nur entwickeln, wenn das Tier sich wohl und sicher fühlt; auf Berührungen sollte in diesen Fällen verzichtet werden!
Oft liegt es auch am andersartigen Verhalten der Bezugsperson, wenn der Aufbau der konditionierten Entspannung nicht gelingen will. Hunde registrieren, wie ihr Mensch sie anschaut, und nicht alle Hunde verkraften den angespannten Beobachtungsblick eines konzentrierten Menschen, und sie verkraften ihn schon gar nicht in Verbindung mit Berührungen. Diesen Hunden hilft es, wenn der Mensch sich auf sich selbst konzentriert und in aller Ruhe neben dem Tier sitzt und sich entspannt, ohne das Tier anzuschauen oder zu berühren.
Es liegt in der Gebrauchsanleitung für die konditionierte Entspannung, dass die Entspannungssignale immer wieder in erregenden Situationen gegeben werden. Damit erfolgt schleichend eine Gegenkonditionierung: das Entspannungssignal wird mit steigendem Erregungsniveau verknüpft.
Um diesem Prozess entgegenzuwirken, gehören alle Entspannungssignale regelmässig auf die Ladestation! Je öfter diese Signale eingesetzt werden, desto häufiger muss ihre ursprüngliche Verknüpfung vertieft werden. Hierbei handelt es sich um eine reine Fleißarbeit: man muss ja nur daran denken, den Hund regelmässig zu entspannen und diesen Zustand mit den entsprechenden Signalen zu verknüpfen. Gelegenheit hierfür bietet sich nahezu täglich im normalen Umgang mit dem Tier an.
Viele Hundehalter hoffen, mit der konditionierten Entspannung den Schlüssel zu einem nicht mehr unerwünscht reagierenden Hund gefunden zu haben. Diese Hoffnung lässt sich nicht erfüllen! Entspannung kann kein Dauerzustand sein – und Entspannung während eines Spazierganges ist menschliches Wunschdenken. Umweltreize steigern das Erregungsniveau, weil Umwelt stimulierend wirkt – und genau das ist der Grund, weshalb wir mit einem Hund überhaupt nach draussen gehen. Das Gehirn braucht Stimulation, und damit befindet sich die Erregung automatisch mit im Gepäck: wir gehen spazieren, damit das Erregungsniveau des Hundes ansteigt!
Mit Hilfe der konditionierten Entspannung kann man mit dem Erregungsniveau spielen, es auf einem passenden Niveau halten, aber nicht Erregung gänzlich verhindern. Die Hauptursache für das „Versagen” der konditionierten Entspannung ist die Erwartungshaltung des Menschen. Die konditionierte Entspannung ist kein Heilmittel für einen bequemen Spaziergang. Vielmehr beeinflusst sie das Aktivierungssystem und hat sozusagen die Hand am Schalter. Konditionierte Entspannung kippt den Schalter wieder in Richtung denkendes Hirn; da die Umweltreize aber weiterhin vorhanden sind und auch auf den Schalter wirken, muss das denkende Hirn auch etwas zu tun bekommen!
Nach dem Entspannungssignal muss die Kommunikation wieder fließen, sonst kippen sowohl der Schalter als auch das Verhalten des Hundes wieder zurück in den reflexiven Bereich der Verhaltenssteuerung. Deswegen muss nach dem Entspannungssignal etwas folgen, was dem Hund hilft, weiterhin auf etwas niedrigerem Erregungsniveau zu reagieren:
Entspannungssignal ➜ Alternativverhalten ➜ Markieren & Belohnen
Unterschiede im Verhalten und Erregungsverlauf – Entspannungssignal mit und ohne Alternativverhalten
- Schematische Darstellung des Erregungsverlaufes mit Entspannungssignal und Alternativverhalten:
2. Schematische Darstellung des Erregungsverlaufes mit Entspannungssignal alleine:
Konditionierte Entspannung macht den Hund wieder ansprechbar und hilft ihm, denkend erregende Situationen zu meistern. Nur in diesem Zusammenhang kann konditionierte Entspannung ein nützliches Werkzeug im Umgang mit dem Hund sein.
Mit freundlicher Genehmigung des Clicker Magazins. Das Clicker Magazin ist war das erste deutschsprachige Magazin rund um die Faszination Clickertraining. Es wurde sechsmal pro Jahr in per Mail verschickt. Leider wurde das Clickermagazin inzwischen eingestellt.