Kein Stress ist auch keine Lösung: Was von Stressvermeidung in der Hundeerziehung zu halten ist
Stress kann Ihnen zu einem entspannten Leben mit Ihrem Hund verhelfen. Klingt paradox? Ist es aber nicht. Denn Stress beeinflusst nicht nur die Gesundheit und das Wohlbefinden Ihres Hundes, Stress beeinflusst auch sein Verhalten. Mit mehr Wissen über Stress können Sie unerwünschte Verhaltensweisen Ihres Hundes verändern und so harmonischer zusammenleben.
Umgangssprachlich nutzen wir den Begriff „Stress“ ausschließlich negativ. „Stress zu haben“ gilt es gut und gern zu vermeiden. Doch ist Stress tatsächlich so „böse“? Lassen Sie ihn uns doch mal unter die Lupe nehmen: Die Wissenschaft kennt verschiedene Erklärungsmodelle. Für die Praxis ist meiner Ansicht nach die folgende Unterscheidung zwischen Stressoren und Stressreaktionen am anschaulichsten.
STRESSOREN
sind Reize oder Situationen, die Stressreaktionen beim Individuum auslösen. Abhängig vom Ausmaß sowie der individuellen Wahrnehmung und Bewertung kann Ihr Hund einen Stressor als Herausforderung (oft auch unter „Eustress“ bekannt) oder als Belastung (oft auch unter „Distress“ bekannt) empfinden. „Böse“ also weit gefehlt.
Wird Ihr Hund gefordert, kann dies positive Folgen haben: z.B. Stärkung des Selbstwertgefühls, Lernen neuer Strategien und Lernen mehr auszuhalten. Wird Ihr Hund hingegen überfordert, kann dies negative Folgen für Gesundheit, Wohlbefinden und/oder Verhalten haben. Deshalb wird er typischerweise versuchen, die Überforderung zu meiden. Sind Tiere nicht klug?! Ist Ihr Hund aber in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt (ist Meiden also nicht möglich), wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit „lauter und wilder“. Sie kennen sicherlich das Bild eines Hundes, der in einer Begegnungssituation mit Artgenossen, in die Leine springt und tobt? Dieser Hund hat Stress. Nicht nur für die „Nerven“ der Bezugsperson, sondern eben auch für die des Hundes wäre es vernünftig und ratsam, gemeinsam an Begegnungssituationen zu trainieren.
Niemand kann allgemeingültige Aussagen darüber treffen, welchen Reiz bzw. welche Situation Hunde auf welche Weise empfinden. Die Bewertung hängt ganz vom Individuum ab und ist sowohl tagesform- als auch situationsabhängig. Es liegt also an Ihnen, Ihren Hund zu beobachten.
Ich kann Ihnen als Orientierungshilfe aber einige mögliche Stressoren nennen:
- Entzug der Grundbedürfnisse (Nahrung, Wasser, Schlaf, Bewegung, ausreichend Wärme und Zuneigung)
- Schmerzen
- Lärm
- Hitze bzw. Kälte
- Soziale Konflikte
- Verlust
- Ablehnung
- Isolation
- Über- und Unterforderung
Bestimmte Umstände sind in der Regel besonders dazu geeignet, Stressreaktionen hervorzurufen. Dazu zählen: Mehrdeutigkeit, Überforderung, Neuartigkeit und Belastungsdauer. Behalten Sie diese Faktoren daher nicht nur im Training, sondern auch im Alltag im Blick. Unkontrollierbarkeit ist immer stressend. Dem sollten Sie mit Ritualen (z.B. Mahlzeiten, Spaziergänge und Ruhephasen jeweils innerhalb eines gewissen gleichbleibenden Zeitrahmens) und Ankündigungen (z.B. für das Anziehen des Brustgeschirrs oder für das Durchführen von Pflegemaßnahmen) entgegenwirken. Mit solchen Maßnahmen können Sie Ihrem Hund Erwartungssicherheit und Selbstbestimmung (zwei Aspekte, die sich äußerst positiv auf die Mensch-Hund-Beziehung auswirken) schenken.
STRESSREAKTIONEN
sind physiologische Antworten auf die oben genannten Reize bzw. Situationen. Sie können unterhalb der Körperoberfläche (z.B. Veränderungen von Hormonen, Blutdruck, Puls) und/oder oberhalb der Körperoberfläche (siehe Aufzählung unten) auftreten. Auch Stressreaktionen sind also keineswegs “böse”, sondern vielmehr überlebenswichtig. Sie können aber negative Auswirkungen auf Gesundheit und Verhalten nach sich ziehen. Deshalb ist es essentiell, dass Sie Stressreaktionen bei Ihrem Hund frühzeitig erkennen. Um die Befindlichkeiten Ihres Hundes beurteilen und entsprechend handeln zu können, sind Sie im Alltag auf nachfolgende beobachtbare Verhaltensreaktionen, an der Körperoberfläche angewiesen:
- Appetitlosigkeit
- Schnelles Hecheln mit „Stress-Gesicht“
- Mangelnde Konzentrationsfähigkeit
- Gähnen
- Strecken und Dehnen
- Schweiß an den Pfotenballen
- Hyperaktivität
- Reduziertes Aktivitätsniveau
- Exzessives Trinken
- Häufiges Urinieren und Kotabsetzen
- Penis ausschachten
- Fell schütteln
- Selbstverletzung
- Zwangsweise und stereotype Verhaltensweisen
- Zittern
- Erweiterte Pupillen
- Wal-Auge (viel Weiß im Auge zu sehen)
- Steifheit des Körpers (Muskelanspannung)
- Plötzlicher Haarausfall/Schuppenbildung
- Gesteigerte Reaktivität
Diese Stressreaktionen kann Ihr Hund nicht willentlich steuern. Genauso wenig wie Sie beim Lesen meiner Zeilen beschließen können, zu schwitzen, ihre Pupillen zu vergrößern oder Gänsehaut zu bekommen, genauso wenig kann Ihr Hund die Reaktionen oben mit Absicht an Sie oder an Artgenossen als Kommunikationsmittel senden. Sie sollten Ihren Hund daher auch für Verhaltensweisen wie zwanghaftes Beknabbern der Vorderpfoten, gesteigerte Aktivität oder regelmäßiges, ausdauerndes Bellen niemals bestrafen (Von Strafen in der Hundeerziehung rate ich allgemein und aus tiefer Überzeugung ab!). Es handelt sich dabei nur um Symptome. Gehen Sie auf die Suche nach den Ursachen (= Stressoren)!
Beachten Sie bitte, dass manche der angeführten Verhaltensweisen auch ohne Stressoren auftreten. Zum Beispiel gähnen Hunde, wenn sie müde sind oder strecken und dehnen sich nach dem Aufstehen. Behalten Sie deshalb immer die Gesamtsituation im Auge. Ihr Hund kann eine einzelne Stressreaktionen oder auch mehrere zeigen.
Es liegt auf der Hand, dass Sie Stressoren in Ihrem Leben nicht (gänzlich) vermeiden können. Das ist aber kein Grund zu verzweifeln. Setzen Sie Ihren Hund einerseits keinen unnötigen Stressoren aus und sehen Sie andererseits die Stressreaktionen Ihres Hundes als Chance, auf ihn eingehen zu können. Zeigt ihr Hund beispielsweise in öffentlichen Verkehrsmitteln eindeutige Stressreaktionen, wissen Sie, dass sie erstmal nicht täglich zusammen eine U-Bahn-Spritztour machen und kleinschrittig für den Ernstfall trainieren sollten. Und falls sie notfalls doch ausnahmsweise zusammen die U-Bahn nehmen müssen, leisten Sie Ihrem Hund Social Support (d.h. bieten Sie ihm Schutz und Zuwendung an), machen es ihm so angenehm wie nur möglich und ernten im besten Fall die Früchte ihres Entspannungstrainings.
Pflegen Sie mit Ihrem Hund einen freundlichen, umsichtigen Umgang, bieten Sie ihm – wenn nötig – Schutz, achten Sie auf ausreichend Ruhephasen, um seine „Batterien aufzuladen“, und trainieren Sie kleinschrittig an belastenden Situationen mit ihm. Denn belastende Situationen bzw. Reize müssen nicht ein Leben lang belastend bleiben. Mit Hilfe von positivem Training können Sie die emotionalen Reaktionen Ihres Hundes so verändern, dass ein Stressor nicht mehr stressend empfunden wird! Das wird Ihnen und Ihrem Hund zu mehr Lebensqualität verhelfen.