Von Helikopter-Hundehalter:innen und den Folgen für deren Hunde
“Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, verliert am Ende beides.” (Benjamin Franklin)
Ein Leben mit Hund birgt Risiken. Eigentlich egal, ob mit oder ohne Hund. Leben birgt Risiken. Passieren kann immer etwas und ob man es möchte oder nicht: in 100 % der Fälle endet das Leben tödlich.
Wieso wir dazu so klare Worte finden? Weil wir leider täglich mit den Folgen von übervorsichtigem Verhalten konfrontiert werden. Ein großer Teil unserer Arbeit besteht mittlerweile daraus, Hundehalter:innen zu helfen, nach und nach ihre Ängste vor hypothetischen Horrorszenarien zu überwinden.
Wir nehmen die Ängste unserer Kund:innen sehr ernst. Gerade weil dieses Thema zunehmend an Bedeutung gewinnt, möchten wir unsere Gedanken und Beobachtungen dazu teilen. Und bitte: Das heißt nicht, dass es genügend Leute gibt, die sich so gar nicht darum scheren, was ihr Hund draußen tut und die sich fahrlässig verhalten. Das wissen wir selbstverständlich, aber diese Leute sind es in der Regel eben auch nicht, die zu uns ins Coaching kommen. Und um die soll es eben in diesem Artikel auch nicht gehen.
Den Begriff “Helikopter-Eltern” haben die meisten Leute schon einmal gehört. Der (teils verpönte) Begriff bezieht sich auf Eltern, “deren Erziehungsstil durch Überbehütung und exzessive Einmischung in die Angelegenheiten der Kinder oder Heranwachsenden geprägt ist.” (Helikopter-Eltern – Wikipedia, aufgerufen am 13.06.2023)
Nun leben wir mit unseren Hunden auch in einem engen Sozialverband und so ist es nicht verwunderlich, dass sich das Phänomen des Helikopterns auch in Bezug auf den Hund wiederfindet.
Helikopternde Hundehalter:innen, agieren extrem vorsichtig und versuchen durch größtmögliche Kontrolle in allen Lebensbereichen ihre Hunde vor jeglichem potenziellen Risiko, Unannehmlichkeiten und Stress zu bewahren. Und obwohl Menschen, die sich so verhalten, das Beste für ihren Hund wollen, hat dieses Verhalten negative Auswirkungen auf die Entwicklung, das Selbstvertrauen, die Problemlösefähigkeit, die Selbstwirksamkeit, die Selbstregulation und sogar die psychische Gesundheit des Hundes.
WIE KOMMT ES, DASS SO VIELE MENSCHEN GROSSE ANGST VOR EINEM UNGLÜCK HABEN?
Manchmal können schlechte Erfahrungen, Panik verbreitende Beiträge und Tipps von Hundewiesenprofis, sowie das eigene Kopfkino dazu führen, dass man als Hundebesitzer:in ängstlich wird.
Man macht eine schlechte Erfahrung und überträgt die Angst von Situation A auf B auf C und so weiter. Angst schleicht sich in den Alltag und fängt an, diesen zu bestimmen.
Das Resultat, um hier ein paar reale Beispiele aus unserem Trainerinnenalltag zu nennen:
- Der Hund wird nicht ans Wasser gelassen, weil der Fluss ihn mitreißen und er ertrinken könnte.
- Der Hund darf nicht am Wegrand schnuppern, weil Giftköder ausgelegt sein könnten.
- Der Hund darf nicht auf gestapelte Baumstämme klettern, weil diese wegrollen, ihn überrollen und töten könnten.
- Der Hund darf nicht an Hundekot riechen, weil er Giardien bekommen könnte.
- Der Hund darf keinen Kontakt zu Artgenossen mehr haben, weil er gebissen werden und (schwer) verletzt oder gar getötet werden könnte.
Natürlich ist nichts aus dieser Aufzählung pauschal ungefährlich. Aber es ist auch nichts davon pauschal sehr gefährlich. Wir schauen uns immer den Hund, seine Fähigkeiten, die Umgebung, etc. an, schätzen aufgrund dessen die Situation ein und passen unser Handeln an.
Das bedeutet:
Zu Punkt 1:
Dort, wo es für Menschen gefährlich ist zu schwimmen, darf natürlich auch der Hund nicht ins Wasser. Große Schifffahrtsstraßen, wie beispielsweise der Rhein, bergen Gefahren durch Sog und Strudel, die für Mensch und Hund schnell lebensgefährlich werden können und es ertrinken dort jedes Jahr Menschen und auch Hunde. Bei kleineren Flüssen, Bächen und Seen sind die Risiken deutlich geringer und in den allermeisten Fällen spricht überhaupt nichts dagegen, den Hund schwimmen oder baden zu lassen.
Zu Punkt 2:
Giftköder sind natürlich ein Problem und es ist auch wahr, dass immer wieder Hunde durch Köder zu Tode kommen. Leider gibt es keine verlässlichen Zahlen, wie viele Hunde pro Jahr an mutwillig ausgelegten Ködern sterben, aber man kann davon ausgehen, dass wir von unter 1% der Todesursachen bei Hunden sprechen. Gutes Training und beim Gassi mit der Aufmerksamkeit beim Hund sein, ist die beste Prävention in Sachen Giftköder.
Zu Punkt 3:
Mehrere Meter hoch aufgestapelte Langholzstapel, die auf den Abtransport warten, können tatsächlich ins Rollen geraten und stellen dadurch eine potentielle Lebensgefahr für jeden dar, der darauf herumkraxelt. Bei fünf riesigen Eichenstämmen, von denen einer alleine schon mehrere Tonnen wiegt, ist es extrem unwahrscheinlich, dass ein Hund diese in Bewegung setzen kann. Auch hier greift die Physik.
Zu Punkt 4:
Dass Hunde an den Hinterlassenschaften von Artgenossen riechen, gehört zum Hundedasein dazu. Und natürlich kann sich ein Hund beim Kontakt mit Exkrementen (egal von welcher Tierart) Parasiten oder Infektionskrankheiten einfangen. Genauso, wie wir uns im Kontakt mit anderen Menschen eben auch eine Grippe holen können. Wenn Symptome auftreten, ist eine Behandlung notwendig und ein an die Umgebung angepasstes Parasitenmanagement (beispielsweise regelmäßige Entwurmung und Zeckenprophylaxe, je nach Infektionsdruck) ist ebenso unerlässlich. Giardien haben hier aber sicherlich neben anderen Endo- und Ektoparasiten und durch sie übertragene Krankheiten nicht die Hauptrolle verdient.
Zu Punkt 5:
Hunde sind im Gegensatz zu uns Menschen sehr friedliebende Kreaturen, die im Normalfall alles dafür tun, es nicht zu einer Eskalation kommen zu lassen. Die Fälle, in denen ein Hund wirklich mit Beschädigungs- oder gar Tötungsabsicht auf einen anderen Hund losgeht, sind selten. Oft eskalieren Situationen nur deshalb, weil die Menschen mit ihrem eigenen Verhalten (schreien, aggressiv den anderen Hund vertreiben wollen, den eigenen Hund hektisch wegzerren, usw.) massiv zur Eskalation beitragen!
WELCHE AUSWIRKUNGEN HABEN ÜBERMÄSSIG VIELE EINSCHRÄNKUNGEN AUF HUNDE?
Wenn ein Hund eine Bezugsperson hat, die sich viele Sorgen macht, die Angst hat, dass dem Hund etwas passieren könnte und aufgrund dessen häufig kontrollierend eingreift, dann wirkt sich das drastisch auf die Lebensqualität des Hundes aus.
Hunde – besonders die, die als sensibel oder feinfühlig beschrieben werden – sind oft regelrechte Seismographen für die Stimmungen ihrer Menschen. Dass Stress sich vom Menschen auf den Hund überträgt, ist inzwischen gut belegt. Und entsprechend sind der Stress, die Angst, die Sorgen des Menschen ein großer Teil des Problems, wenn Hunde verhaltensauffällig werden und letzten Endes bei uns im Coaching landen.
Meistens bleibt es nicht dabei, dass nur eine bestimmte Sache verboten, stark kontrolliert oder verhindert wird, sondern gleich eine ganze Reihe von Dingen. Klar, ist man eher ein ängstlicher Typ, bezieht sich das meistens auf viele Lebensbereiche.
Beim Hund bewirkt das:
- Grundbedürfnisse können nicht ausgelebt werden:
- Erkundungsverhalten (Schnüffeln, Dinge aufnehmen, klettern etc.)
- Sozialkontakt
- Selbstverwirklichung (Buddeln, Schwimmen, was der Hund gerne mag)
- Unverhältnismäßiger, negativer Stress (Verbote, panische/ängstliche Stimmung des Menschen, fehlendes Ausleben wichtiger Bedürfnisse)
- Probleme in der Mensch-Hund-Beziehung (Mensch = Spaßbremse/Miesmacher/Spielverderber)
Mit fatalen Folgen, deren Bezug zu den ursprünglichen Verboten nicht direkt ersichtlich ist: Es entstehen Verhaltensprobleme, teils in ganz anderen Kontexten/Lebensbereichen oder bereits bestehende Verhaltensprobleme verschlimmern und verfestigen sich. Um hier ein paar konkrete Beispiele zu nennen:
- Probleme beim Sozialkontakt, z.B. Leinenaggression
- Übermäßiges Jagdverhalten
- Hibbeligkeit, z.B. in Arme und Beine schnappen
Ganz klassische Symptome, die wir in unserem Trainerinnenalltag häufig sehen, sind z.B. bei Arbeitsrassen/-typen, die stark auf die Zusammenarbeit mit dem Menschen selektiert wurden, eine extreme Orientierung am Menschen. Der Hund zeigt überhaupt kein Erkundungsverhalten mehr, weil er durchgehend an seiner Bezugsperson klebt und etwas erwartet. Oder aber auch das komplette Gegenteil, vor allem bei eigenständigen Rassen/Typen: Der Hund hat draußen überhaupt keine Verbindung zu seinen Bezugspersonen. Das kann sich zum Beispiel in einem übermäßig großen Radius und einer quasi nicht vorhandenen Kooperationsbereitschaft zeigen.
Manchmal hat die schnelle, ängstliche, bestimmende oder panische Reaktion der Bezugsperson auch direkt negative Auswirkungen auf das zukünftige Verhalten des Hundes in dieser Situation. Z.B. schlucken viele Welpen nicht essbare Dinge zukünftig als Folge dessen ab, dass ihre Menschen ihnen immer alles, was sie finden und (mit dem Maul) erkunden, direkt abnehmen und gestresst reagieren. Oder ein Hund, der panisch aus Begegnungen mit anderen Hunden (oder Menschen) weggezogen wird, kann nicht lernen, mit schwierigen Situationen umzugehen, geht zukünftig gestresster in Begegnungen und reagiert ggf. sogar aggressiv, sobald Zug auf die Leine kommt.
Hunde müssen Hunde sein dürfen. Sie müssen schnuppern, frei rennen, sich wälzen dürfen und sie brauchen im individuell richtigen Maß Kontakt zu gut sozialisierten Artgenossen. Sie müssen die Chance bekommen, zu lernen, auch mit weniger gut sozialisierten Artgenossen klarzukommen. Das Stichwort lautet Resilienz. Einen Hund vor realen Gefahren schützen zu wollen und entsprechend vorausschauend zu handeln, ist richtig und wichtig. Aber die Welt nur noch als potenzielle Todesmaschinerie zu betrachten, ist es nicht. Es ist ungesund für den Menschen und es macht auch den Hund krank und neurotisch. Von Lebensqualität kann in diesen Fällen nicht mehr die Rede sein.
WAS ALSO TUN?
Je nachdem wie stark Ängste und Sorgen ausgeprägt sind, kann ein:e Hundetrainer:in oder Verhaltensberater:in alleine nichts bewirken. Psychologische Hilfe in Form von psychologischer Beratung oder der Unterstützung durch eine:n Psychotherapeut:in ist in vielen Fällen mehr als sinnvoll. Die Ängste und Sorgen, die wir alle irgendwie mit uns herumtragen, haben ja Gründe und die gilt es herauszufinden. Denn nur, wenn man weiß, womit man es zu tun hat, kann man auch wirklich etwas ändern.
Abschließend ist es wichtig zu betonen, dass Ängste und Sorgen um den Hund völlig normal sind und keineswegs etwas Schlechtes bedeuten. Als Hundebesitzer:in möchte man nur das Beste für seinen Vierbeiner und das beinhaltet auch, ihn vor Gefahren zu schützen. Aber es ist eben wichtig, sich bewusst zu machen, dass zu viel Kontrolle und Übervorsichtigkeit Folgen hat. Es braucht daher ein gesundes Gleichgewicht zwischen Vorsicht und Freiheit für den Hund.
Für ein glückliches und erfülltes Leben muss ein Hund die Möglichkeit haben, seine Umwelt zu erkunden, seine Bedürfnisse auszuleben, sich auszuprobieren und ja, auch Fehler machen zu dürfen. Unsere Aufgabe ist es, ihn dabei zu unterstützen. So viel wie nötig, aber so wenig wie möglich, damit er selbstbewusst und selbstwirksam durchs Leben gehen kann.
Gemeinsam verfasst von Maria Rehberger, Carolin Hess und Sophia Bauer.