Alternativverhalten in Hundebegegnungen
Im positiven Training haben wir den Fokus darauf, was der Hund gut macht. Das wollen wir verstärken. Also so belohnen, dass der Hund bestimmte Verhaltensweisen öfter, schneller, länger andauernd oder intensiver zeigt. Ein Grundprinzip ist dabei das Training von sogenanntem Alternativverhalten. Alternativverhalten sind erwünschte Verhaltensweisen, die unerwünschte Verhaltensweisen ersetzen sollen. Jedes Verhalten, das mit dem unerwünschten Verhalten unvereinbar ist, ist dazu prinzipiell geeignet.
Ein einfaches Beispiel: Ein Hund, der sitzt, kann nicht gleichzeitig springen oder einen Jogger jagen. Verstärkt man also bei einem Hund das Sitzen häufig, so kann man es in den entsprechenden Situationen beim Hund abrufen, BEVOR er den Besuch anspringt oder dem Jogger hinterherrennt. Stellt man sich geschickt an, dann wird der Besucher, der früher Anspringen, oder der Jogger, der Nachrennen ausgelöst hat, sogar zum Signal für den Hund sich hinzusetzen. Das ist doch ziemlich fein, oder?
Ja, ABER.
Es kommt sehr darauf an, aus welcher Perspektive man ein Alternativverhalten betrachtet. Aus Sicht des Menschen sind ganz viele Verhaltensweisen Alternativverhalten. Anstatt sich hinzusetzen, könnte ein Hund sich auch hinlegen, seinen Menschen anschauen, einen Hand-Touch (mit der Nase die Hand des Menschen anstupsen) machen, eine Acht durch die Beine des Menschen laufen oder oder oder. Aus Sicht des Hundes sind das allerdings oft keine wirklichen Alternativen, vor allem dann nicht, wenn es um Situationen geht, in denen bestimmte Bedürfnisse des Hundes getriggert werden.
Schauen wir uns das also mal näher an, und zwar am Beispiel der Hundebegegnungen:
Ein Hund springt bei Hundesichtung in die Leine und bellt. Oder er stürmt im Freilauf bellend auf andere Hunde los. Der Hand-Touch ist in solchen Situationen ein Verhalten, das mir oft begegnet. Bevor der Hund also in die Leine springen oder losrennen und bellen kann, bekommt er von seinem Menschen das Signal für den Handtouch. Was passiert, wenn man das Signal für den Hand-Touch nicht rechtzeitig gibt, sondern erst dann, wenn der Hund schon unerwünschtes Verhalten gezeigt hat, darüber habe ich einen Blogartikel geschrieben, den ihr hier findet: Achtung, Verhaltenskette!. Meistens gibt man das Signal so, dass der Hund sich, um den Hand-Touch auszuführen, vom anderen Hund wegbewegen muss und so ein Ausweichen der Begegnung oder ein Passierenlassen des anderen Mensch-Hund-Teams möglich wird. Doch ist das wirklich ein Alternativverhalten zu den oben beschriebenen Verhaltensweisen?
Aus Hundesicht definitiv nicht.
VERHALTEN HAT IMMER EINEN GRUND.
Unter dem sichtbaren Verhalten liegen zunächst einmal Emotionen und Gefühle. Im Fall von Hundebegegnungen sind das ganz oft Angst, Unsicherheit, Frust oder auch Wut. Diesen Emotionen und Gefühlen wiederum liegen (unerfüllte) Bedürfnisse zugrunde. Häufig werden in Hundebegegnungen das Sicherheitsbedürfnis, das Bedürfnis nach autonomen Entscheidungen oder auch das Bedürfnis nach Kontakt zu Artgenossen angesprochen. Deshalb zeigt der Hund die unerwünschten Verhaltensweisen überhaupt erst. Ist das Ausführen eines Hand-Touchs denn nun in der Lage, diese Bedürfnisse zu erfüllen und so die emotionale Grundlage für das ursprünglich gezeigte Verhalten zu verändern? Die Antwort lautet ganz klar: Es kommt drauf an.
Wenn ein Hund Angst vor anderen Hunden hat und er durch den Hand-Touch verhindern kann, dass ein Kontakt stattfindet, dann vielleicht. Wenn der Hund aber frustriert ist, weil er eben gern zum anderen Hund hin möchte und deswegen seinem Unmut Luft macht, dann sicher nicht.
Jetzt könnte man meinen, dass der Hand-Touch entsprechend bei Hunden, die Angst vor anderen Hunden haben, die Lösung ist. Ich sehe das anders. Ich frage mich, wie es einem Hund wohl gehen mag, der bei jedem Gassi Angst davor haben muss, einem Artgenossen zu begegnen und als einzige Lösungsstrategie hat, einen Hand-Touch bei seinem Menschen zu machen? Was macht das mit der Selbstwirksamkeit des Hundes? Was ist mit dem Stresslevel allgemein? Was passiert, wenn der Hund unverhofft auf einen anderen Hund trifft und der Mensch nicht in unmittelbarer Nähe ist? Was, wenn der Hand-Touch nicht “funktioniert”, weil der andere Hund trotzdem herkommt?
Das Ergebnis nicht-funktionalen Alternativverhaltens wie dem Hand-Touch, sehe ich bei ganz vielen Teams, die zu mir ins Coaching kommen: Hunde, die spätestens dann, wenn der andere Hund zu nahe kommt, doch nach vorne gehen. Von den Frusties, die eigentlich gerne Kontakt hätten, brauchen wir erst gar nicht reden. Bei denen funktioniert das auf die Seite gehen und Hand-Touch machen in der Regel mittelmäßig bis schlecht, eben weil es für sie nicht mal annähernd ein passendes, bedürfnisbefriedigendes, echtes Alternativverhalten ist.
Was also ist ein echtes Alternativverhalten in Begegnungssituationen, das sowohl funktioniert, wenn der Hund Angst hat, als auch wenn er gefrustet ist oder – wie es ganz, ganz häufig vorkommt – irgendwas dazwischen? Um Ängste und Frust abzubauen ist eines elementar wichtig: Gute Hundebegegnungen!
Der Hund muss positive Erfahrungen mit anderen Hunden sammeln dürfen, so dass bei den einen das Sicherheitsbedürfnis, bei den anderen das Kontaktbedürfnis befriedigt wird. Und damit eine Hundebegegnung positiv verläuft, muss ein Hund einerseits (wieder) lernen dürfen, wie höfliches, deeskalierendes Verhalten aussieht, andererseits braucht er auf jeden Fall einen Menschen, der ihn dabei unterstützt. Angsthäschen brauchen eine Mutmacherin an ihrer Seite, Frusties jemanden, der Verständnis hat, wie doof das ist, wenn man nicht so kann, wie man gern will und der tröstet. Denn klar ist: Kein Hund muss zu jedem Hund jederzeit Kontakt aufnehmen. Das Angsthäschen muss sich NICHT vom freilaufenden Der-tut-nix belästigen lassen, der Frustie kann nicht einfach zu jedem x-beliebigen angeleinten Hund hin um mal nett Hallo zu sagen. Könnte ja ein Angsthäschen sein, das aus einem bestimmten Grund angeleint ist, nicht wahr?
Grundlegend sollten wir alle daran arbeiten, dass unsere Hunde zu anderen Hunden entspannt Kontakt haben können, sicher in Begegnungssituationen werden und zwar völlig unabhängig davon, ob freilaufend, angeleint und wie sich der andere Hund verhält.
Der Hund soll die Sicherheit bekommen, dass er Begegnungen größtenteils selbstwirksam bewältigen kann und sollte er doch Hilfe brauchen, ist da ja immer noch sein Mensch, der unterstützend eingreifen kann. Dieses Sicherheitsgefühl ist es, worum es eigentlich geht. Die emotionale Ebene ist die entscheidende. Wir müssen von unten ans Verhalten ran, anstatt es von oben verändern zu wollen. Ändert sich das Empfinden beim Hund, ändert sich automatisch auch das Verhalten. Ein Hund, der keine Angst hat, der sich nicht ärgert und dem es wirklich gut geht, der hat überhaupt keinen Grund, aus unserer Sicht unerwünschtes Verhalten zu zeigen. Da die Strategie, die der Hund bisher zeigt, aber für den Hund offensichtlich auf irgendeine Art funktioniert (sonst würde er sie ja nicht nutzen) und sei es nur als Ventil zum Stressabbau oder weil externe Verstärker am Werk sind, die uns vielleicht gar nicht bewusst sind, müssen wir dem Hund Alternativen aufzeigen, die wirkliche Alternativen sind.
Um die Selbstwirksamkeit maximal zu fördern, suche ich mir also alternative Verhaltensweisen aus, die der Hund a) selbstständig und völlig unabhängig von seinem Menschen zeigen kann, und die b) im natürlichen Verhaltensrepertoire eines Hundes sowieso enthalten sind.
Perfekt geeignet sind die Verhaltensweisen, die wir bei gut sozialisierten Hunden beobachten können: Hund wahrnehmen, kurz hinschauen, Tempo rausnehmen, Kopf runternehmen und schnuppern, entweder im Stehen oder langsam gehend. Idealerweise mit leicht abgewandtem Kopf und Körper, immer wieder mal kurz schauend, wo denn der andere ist, nur um dann entspannt weiterzuschnuppern. Das ist eine schöne Verhaltenskette, deren Elemente wir überall im Alltag einfangen und verstärken können, vor allem auch dann, wenn KEIN Hund in Sicht ist. Denn in Hundebegegnungen kann der Hund das ja anfangs noch gar nicht zeigen, sonst hätten wir das Problem eines passenden Alternativverhaltens ja nicht.
Das Erregungslevel, die Stimmung, Emotionen und Gefühle werden immer mitgelernt. Je entspannter alles ist, je wohler sich der Hund fühlt, wenn wir diese Verhaltensweisen einfangen und verstärken, umso positiver wirken sie sich dann in Hundebegegnungen aus und der Hund wird überhaupt erst in die Lage versetzt, auf sie zurückzugreifen.
Im Alltag heißt das also ganz konkret loben und/oder belohnen für:
- Tempowechsel von schneller zu langsamer
- Moderate Körperspannung
- Entspanntes Gehen und Traben
- Hinschauen/wegschauen
- Kopf runternehmen und schnuppern
- Selbstständiges, gemächliches Bogenlaufen
Dabei ist natürlich das WIE entscheidend. Unser Feedback sollte beim Hund ankommen, es sollte ihn aber auch nicht groß in seinem Tun unterbrechen und stören.
Da das nicht so einfach ist, weise ich darauf hin: Das lernt man nicht durch Online-Kurse, Webinare, etc. Wirklich lernen könnt ihr das nur im praktischen Coaching durch selbst Tun, Erleben, Erfahren und jemanden, der euch darin kleinschrittig anleiten kann.
FAZIT:
Ein Hand-Touch ist kein echtes Alternativverhalten, wenn es darum geht, dass ein Hund lernen soll, Hundebegegnungen selbstwirksam und sicher bewältigen zu können. Der Hund lernt durch einen Hand-Touch kein angemessenes Sozialverhalten, er kann nicht lernen, dass direkter Kontakt zu anderen Hunden nichts Schlimmes, sondern vielleicht gar etwas Schönes sein kann.
Aber der Hand-Touch ist eine gute Managementmaßnahme, wenn – aus welchen Gründen auch immer – kein Kontakt zwischen den Hunden stattfinden soll oder kann. Deshalb ist es natürlich sinnvoll, einem Hund einen Hand-Touch oder etwas ähnliches beizubringen, womit man ihm kommunizieren kann, wo er sich hinbewegen soll. Ich persönlich nutze den Hand-Touch tatsächlich gar nicht, sofern mein Kundenhund ihn nicht eh schon kann und gerne macht. Ich brauche ihn nicht, um mit einem Hund meine Lieblings-Management-Übungen “an den Rand gehen und den anderen vorbei lassen” und “eng beim eigenen Menschen bleibend am anderen vorbei gehen” zu trainieren, das geht auch ohne.
Und meine Devise ist immer:
So einfach wie möglich, denn meine Kund:innen müssen diese Sachen im Alltag umsetzen können. Je komplizierter alles wird und je mehr der Hund an Signalen beherrschen muss, umso geringer werden die Erfolgsaussichten und umso mehr Frust stellt sich bei Mensch und Hund oft gleichermaßen ein. Wenn also jemand zu mir ins Coaching kommt, mit einem Hund, der “normale” Begegnungsthemen hat (das heißt der Hund hat ansonsten keine größeren Verhaltensthemen, er ist gesund und schmerzfrei und wir haben keine totale Schieflage in Sachen Bedürfniserfüllung), dann muss weder der Mensch noch der Hund schon was können. Wir steigen einfach da ein, wo die beiden stehen und wir kriegen in wenigen Coaching-Einheiten ziemlich deutliche Verbesserungen hin. Natürlich ist es mit ein paar Einheiten Coaching nicht getan. Man muss dranbleiben, im Alltag zuhause umsetzen und sich vor allem immer wieder aus der eigenen Komfortzone raus bewegen. Aber dann, dann kann es richtig gut werden. Auch ganz ohne Hand-Touch.
Zum Schluss ist es mir wichtig, euch noch ein paar (mehr) Worte mitzugeben:
Ich finde, jeder Hund hat es verdient seine Ängste abbauen zu dürfen.
Ich persönlich finde es nicht fair, Ängste des Hundes einfach nur zu managen, sprich ihn so gut es geht davor zu bewahren, mit seinen Angstauslösern konfrontiert zu werden. Warum? Weil es die Lebensqualität des Hundes entscheidend beeinflusst, ob er weitestgehend angstfrei und optimistisch durchs Leben gehen kann oder die Welt als grundsätzlich mehr oder weniger gefährlich empfindet, weil es immer passieren kann, dass ein Hund zu nah kommt und all das schöne Management nicht mehr funktioniert. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob solche Situationen dann für Hund und Mensch bewältigbar sind oder ob es jedes Mal wieder massive Stressereignisse sind, die zwar selten, aber eben doch immer wieder vorkommen.
Hinzu kommt, dass wir immer unabhängiger davon werden, ob andere sich “richtig” verhalten. Wenn mein Hund Begegnungen egal welcher Art bewältigen kann, dann ist der freilaufende Der-tut-nix einfach keine Bedrohung mehr. Ängste haben die wunderbare Eigenschaft, kleiner zu werden, wenn man sich ihnen stellt und sich mit ihnen auseinandersetzt. Eine entsprechende Unterstützung für Hund und Mensch muss dabei aber selbstverständlich gewährleistet sein. Denn raus aus der Komfortzone ist wirklich nicht so leicht, aber in der Komfortzone findet keine Entwicklung, kein Wachstum statt.
Ich sehe in meiner Arbeit leider häufig, dass Meideverhalten beim Hund verstärkt wird. Darüber habe ich auch schon einen Artikel geschrieben.
Den findet ihr hier: Trainingspraxis bei Begegnungsproblemen des Hundes: Meideverhalten in Begegnungssituationen markern – ja oder nein?
Hat ein Hund Ängste, dann neigt er wie der Mensch dazu, die Angstauslöser zu meiden und sich ihnen nicht zu stellen, sich nicht mit ihnen auseinanderzusetzen. Dieses Meideverhalten wird von Menschen häufig als etwas Positives wahrgenommen, weil der Hund nicht zum anderen Hund hinschaut, weil er versucht auszuweichen, etc. Und weil der Mensch es als positiv wertet, wird es häufig auch noch verstärkt. Es wird gemarkert, gefüttert usw.
Übertragen in die Menschenwelt heißt das: Ich weigere mich, das Zimmer mit der Spinne zu betreten und bekomme dafür auch noch einen Eisbecher. Doppelt gut für mich – aber sicherlich nicht, was meine Problematik mit Spinnen und meine Weiterentwicklung dahingehend anbelangt. Überhaupt: Was soll ein Eisbecher daran ändern, dass ich Schiss vor Spinnen habe? Wäre die Erfahrung zu machen, dass so eine Spinne eigentlich echt nix Schlimmes ist, dass ich die anschauen kann, ohne dass sie mir den Kopf abbeißt, nicht viel wertvoller? Dass ich mich ihr vielleicht sogar annähern kann und immer noch nix Schlimmes passiert? Dass sie über meine Hand laufen kann, ich das schweineeklig finde und mich vielleicht echt zusammenreißen muss, um nicht loszukreischen und ich erlebe, hey, das war krass, aber ich hab es geschafft! Ich schaffe das bestimmt nochmal. Und vielleicht auch mit einer größeren Spinne! Und wenn ich dann noch einen Menschen an meiner Seite habe, der sich hart über meinen Mut, mein Über-mich-hinauswachsen, meine Erfolge freut, wäre das nicht ganz fantastisch? Würde ich dadurch nicht mehr Selbstbewusstsein, mehr Resilienz entwickeln? Diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten und überlegen, was er für sich, vor allem aber für seinen Hund möchte.
Und ja, das ist vielleicht kurzfristig etwas mehr Stress. Kurzfristig heißt aber nicht Wochen und Monate. Wenn man es richtig anstellt, sind es wenige Stunden, auf wenige Tage verteilt, um eine drastische Verbesserung zu erreichen. Das ist es aus meiner Sicht wert und für mich um so vieles besser als wochen-, monate- oder gar jahrelang mit einem gewissen Dauerstress leben zu müssen.