Wölfe leben nicht hierarchisch
AGGRESSIVE ALPHA-WÖLFE GIBT ES NICHT.
DOMINANZ BEIM HUND BASIERT AUF EINEM FALSCHEN BILD ÜBER WÖLFE.
EIN MYHTOS, UNTER DEM UNSERE HUNDE NOCH IMMER LEIDEN.
Zur Begrüßung schnuppert Kenai vorsichtig an meiner Hand. Dann leckt er sie kurz ab – eine kleine Geste, die großen Eindruck macht. Immerhin ist Kenai ein rund 50 Kilogramm schwerer Wolf mit einem Gebiss, das locker den Oberschenkel eines Rinds zermalmen kann.
Genauso beeindruckend ist, wie Kenai neben Kurt Kotrschal (Mitbegründer des Wolfforschungszentrums, Professor im Ruhestand) an der Leine läuft. “Hätte man mich vor Jahren nach dem Unterschied zwischen Wolf und Hund gefragt, hätte ich gesagt: Nehmen Sie beide an die Leine. Dann merken Sie es?”, sagt Kotrschal. Nach zweijährigem Training mit Hunden wie Wölfen ist der Verhaltensforscher zu einer anderen Einsicht gelangt: “Wölfe sind meist leinenführiger als Hunde.”
Ein Wolf an der Leine? Für die Besucher des Wolfsforschungszentrums (WSC) im Wildpark Ernstbrunn bei Wien ist das ein täglicher Anblick. Wer will, der kann sogar an einem «Wolfsspaziergang» teilnehmen. Die Faszination ist groß: “Wir sind auf ein Jahr ausgebucht”, sagt Kotrschal.
Der Hauptzweck des rund 30 000 Quadratmeter großen Zentrums ist jedoch ein anderer. Kotrschal und seine Kolleg:innen wollen in dieser besonderen Forschungseinrichtung herausfinden, wie schlau Wölfe sind, wie sie miteinander kooperieren und was sie von Hunden unterscheidet.
Deshalb importieren sie Wolfswelpen aus Nordamerika, die im Alter von zehn Tagen von ihren Müttern getrennt wurden, sowie Hundewelpen aus ungarischen Auffangstationen. Beide Gruppen wachsen getrennt voneinander, aber unter gleichen Bedingungen am 2010 eröffneten Zentrum auf. Das gewährleistet, dass die Tiere an Menschen gewöhnt sind, und es ermöglicht Vergleiche. 14 Wölfe und 15 Hunde lebten bisher im WSC, je 20 sollen es werden. Sie lernen Signale wie “Sitz”, aber auch mit der Schnauze Symbole am Touchscreen zu berühren.
Kotrschal und seine Mitarbeiterinnen erleben dabei immer wieder Szenen, die das gängige Bild vom Wolf auf den Kopf stellen. Als der Biologe zum Beispiel einmal im Gehege mit vier Wölfen übernachtete, spürte er plötzlich den Kopf des schwarzen Aragorn auf seinem Oberschenkel. Aber das war noch nicht alles: Der einjährige Wolfsrüde hatte «seinen Mitternachtssnack in Form der Wirbelsäule eines Rehs» mitgebracht und knabberte daran, «dass die Knochen nur so krachend knackten», erinnert sich Kotrschal in seinem eben erschienenen Buch. Dem Professor gefror schier das Blut in den Adern.
Keinesfalls wollte er Aragorn den Eindruck vermitteln, er wolle ihm den Leckerbissen wegnehmen. Denn wenn es ums Futter geht, verstehen Wölfe keinen Spaß. Das erste Gebot der Wolfsforscher – auch zur eigenen Sicherheit – lautet daher: Konflikte mit den Wölfen vermeiden, sie weder dominieren noch bestrafen.
“Nach einer Weile regungslosen Liegens wurde es unbequem, ich drehte mich zur Seite. Schliesslich begann ich, Aragorns Kopf zu kraulen und auch die Rehwirbelsäule anzufassen. Und wie reagierte der Rüde? Gar nicht, nicht mal ein leises Knurren”, schreibt der Leiter des Forschungszentrums. Zuletzt konnte Kotrschal sogar ertasten, welche Backenzähne der Wolf zum Knochenbrechen einsetzte.
Diesem Erlebnis folgten weitere Überraschungen, zum Beispiel, dass Wölfe weit weniger auf Dominanz aus sind, als ihnen unterstellt wurde. Der Schnauzenbiss eines älteren Wolfs bei einem jüngeren etwa sei meist keine Geste der Unterwerfung, sondern “eine Art freundliche Umarmung”. Anders als früher vermutet, herrsche im Wolfsrudel vielmehr Heterarchie. Das falsche Bild vom Alpha-Wolf, der alle anderen unterwirft, führt zu Missverständnissen, unter denen mancher Hund heute noch leidet.
Der Umgang mit Hunden sei noch immer “von einem falschen Wolfsbild geprägt, das da meint, das wichtigste Merkmal der Wolfsgesellschaft sei die Dominanzhierarchie, und wer nicht pariere, der werde gemaßregelt und unterworfen, am besten gleich prophylaktisch”, kritisiert Kotrschal.” Darum werden Hundewelpen immer noch gnadenlos schnauzengerüffelt und nackengeschüttelt. Das ist völliger Unsinn. Man weiß heute, dass die ausgeprägte Hierarchie bei Wölfen nur bei Gehegehaltung auftritt.”
Im 19. Jahrhundert sei der Wolf zum Symbol von Härte, Ausdauer, Tapferkeit und einer autoritären Führergesellschaft hochstilisiert worden. “Dabei leben Wölfe unter Freilandbedingungen in kooperativen Familienverbänden liebevoll und beinahe egalitär untereinander”, hält Kotrschal fest. Nichts weise darauf hin, dass “Wolfsrudel befehlsorientiert und unter Strafsanktion funktionieren. Im Gegensatz dazu sind beispielsweise Schimpansengruppen eher despotisch organisiert”. Aggression spiele innerhalb der Wolfsrudel hingegen nur eine “ganz geringe” Rolle.
Im Umgang mit Testosteron ökonomischer als Männer
Einen Grund für diese Friedfertigkeit sieht Kotrschal in den fast ganzjährig tiefen Werten an männlichen Geschlechtshormonen bei den Wolfsrüden. Nur zur Ranzzeit im Februar steigt der Testosteronspiegel, dann wachsen die Hoden von Hasel- auf Baumnussgröße. Da hohe Testosteronwerte mit größerer Risikobereitschaft einhergehen, seien Wölfe in dieser Hinsicht “wesentlich ökonomischer” als Hunde oder Männer, findet der Autor.
Begegnungen mit fremden Wolfsrudeln enden dagegen meist blutig. Im Yellowstone-Nationalpark würden rund 60 Prozent der Wölfe durch andere Wölfe sterben, erzählt Kotrschal vor einem der zwei Wolfsgehege, aus dem gerade mehrstimmiges Geheul ertönt – eine Botschaft an das Rudel im Nachbargehege, die der Abgrenzung von ihm dient.
Wölfe sind kooperativ, aber sie hinterfragen mehr als Hunde
Die “grausamen Grenzkriege” sind Kotrschal zufolge nur eine der Gemeinsamkeiten zwischen Wolf und Mensch. So “gibt es nicht allzu viele Säugetierarten, bei denen man innerhalb der Gruppen so lange und freundlich kooperiert”. Beide Spezies seien sehr soziale, spezialisierte Laufjäger, die sich von allen Säugetieren weltweit am weitesten verbreiten konnten.
Um mehr über das feine Zusammenspiel zu erfahren, gehört seit neuestem ein zehn Meter langes Laufband zum WSC. Damit wollen die Biologen herausfinden, wie sich die Rudel beim Jagen (auf einen Rehschlegel) organisieren und wie viel Energie sie dabei verbrauchen.
In den bisherigen Versuchen waren die Wölfe sehr kooperativ, aber “sie hinterfragen mehr”, sagt Kotrschal. “Man hat den Eindruck, dass Hunde einfach unseren Anweisungen folgen, während Wölfe das Denken währenddessen nicht aufgeben.” Auch die Beziehung zur Person am Ende der Leine spielt bei ihnen offenbar eine größere Rolle.
Mensch und Wolf verbinde eine jahrtausendelange Geschichte, die sich – von den alten Römern bis zu den nordamerikanischen Indianern – in vielen Mythen niederschlug. Wölfe, so Kotrschals Credo, sind unsere “wesensähnliche Schwesterart” – und verdienen Schutz.
Kurt Kotrschal: Wolf Hund Mensch. Brandstätter-Verlag 2012, ca. 35 Franken.
www.wolfscience.at
Publiziert am 30.09.2012
Mit freundlicher Genehmigung von Marina Frei und der SonntagsZeitung.
(Beitrag von 2018, aktualisiert im Juni 2024)