Warum tut der Hund, was er tut?, Buch von Christine Holst (Neuauflage 2022)
ANAMNESE LEITFADEN FÜR HUNDETRAINER
von Christine Holst (†)
Ich habe für die Rezension die zweite und erweiterte Auflage gelesen. Eine Rezension zu der ersten Auflage findet ihr hier von Michaela Wolf und ich würde allen Leser:innen ans Herz legen, sich diese vorab (nochmals) durch zu lesen.
Gendering
Die Autorin weist darauf hin, dass in ihren Texten ALLE gemeint sind. Damit die Inhalte jedoch gut lesbar bleiben, verzichtet sie in diesem Werk auf die jeweilige Mehrfachnennung oder Anpassung der Schreibweise bestimmter Bezeichnungen an die weibliche, männliche oder diverse Form.
“Hund ist nicht gleich Hund, sondern ein einzigartiges, soziales Lebewesen mit Bedürfnissen, individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten – durch ein Zusammenspiel von Vererbtem (20 – 25%), Umwelteinflüssen, Lernerfahrungen und Zufallsereignissen.”
Genau aus diesem Grund muss jeder Fall individuell betrachtet, durchleuchtet und analysiert werden. Um dieser Art der Anamnese eine Struktur zu geben, hat Christine Holst dieses Buch geschrieben und immer wieder mit ihren eigenen Fallbeispielen ergänzt.
Es beginnt mit dem A & O der Anamnese: dem Kundenkontakt
In diesem Kapitel stellt sie vor, wie das erste Gespräch aussehen kann, wozu es da ist und teilt Hundehalter-Typen – etwas überzeichnet in verschiedene Kategorien ein und was deren Bedürfnisse sind. Mir gefällt es, wie die Autorin hier ihr Augenmerk auf die Hundehalter:innen legt, denn können wir diese nicht abholen, ist ein Training und damit eine Veränderung im Leben des Hund-Mensch Teams nicht möglich.
Weiter geht es mit der Kommunikation
Christine Holst führt auf, was diese beeinflusst, welche Wahrnehmungskanäle es gibt, was nonverbale Kommunikation ausmacht und wo es ggf. Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt (sie führt hier allerdings nur zwei Geschlechter auf).
Mir gefällt, dass sie in diesem Kapitel auf das Vier-Ohren-Modell der Kommunikation (nach Friedemann Schulz von Thun) eingeht und Tipps für das erste Gespräch vor Ort beim Kunden gibt.
Weiter geht es mit der Anamnese. Hier werden mit Hilfe eines Anamnese-Baums “alle Äste nebst Blättern, die zur Wurzel führen”, aufgezeigt. Dieser Baum nimmt fast den gesamten Rest des Buchs ein.
Es wird unterschieden zwischen Faktoren, die den Hund und Faktoren, die den Menschen betreffen. Der Reihe nach arbeiten wir uns durch alle aufgeführten Bereiche wie z.B. Einflussfaktoren beim Hund, Einflussfaktoren beim Menschen, Gesundheit, Ernährung, Auslastung und Beschäftigung. Besonders möchte ich mich beim Thema Hund den Kapiteln Gesundheit, Ernährung und Temperament und Persönlichkeit widmen, da es in diesen extra ergänzende Exkurse von Profis gibt.
Gesundheit
Im Teil Gesundheit macht das Buch einen Exkurs zum Thema Schilddrüse von Petra von der Ahe (Psycho Dog). Dieser widmet sich dem Zusammenspiel des Organs, der Psyche und dem Verhalten des Hundes. Zuerst geht es um den Aufbau des Schmetterlingsorgans, welches an der Vorderseite des Halses unterhalb des Schildknorpels vom Kehlkopf sitzt.
“Schauen wir uns die Lage des Organs an, verstehen wir, warum das Tragen eines Halsbandes eine sensible Angelegenheit ist. Reißen, rucken, ziehen ist ein absolutes No-go, denn dadurch kann es zu Verletzungen des Gewebes kommen und in der Folge zu einer Fehlfunktion der Schilddrüse.”. Weiter beschreibt Petra von der Ahne, wie Schilddrüsenhormone eingesetzt werden, wo sie im Körper vorkommen, was sie alles beeinflussen und was passiert, wenn diese aus dem Takt geraten. Bei der Aufzählung der Symptome fand ich besonders spannend, dass diese “allesamt unspezifisch sind und jedes Symptom für sich genommen keinen eindeutigen Hinweis auf die Diagnose gibt.”
Mir als Groomerin fällt natürlich besonders der Teil auf, in dem auch auf die Symptome von Haut und Fell eingegangen wird. Oft werden mir Hunde vorstellig, die seit längerem mit Haut und/ oder Fellproblemen zu tun haben. Wenn ich dann nachfrage, ob ein Schilddrüsenprofil erstellt wurde, wird dies oft mit einem ungläubigen Blick quittiert, weil die Zusammenhänge zwischen den beiden Organen oft nicht bekannt sind.
Weiter geht es mit den zusammenhängenden Faktoren wie Kastration, Rasse, Alter, Geschlecht und Tages- bzw. Jahreszeit.
Im Teil “Die Diagnostik – Der Weg ist das Ziel” bringt die Autorin den Artikel wieder auf den Anamnese-Baum zurück, welcher für sie dabei eine “unentbehrliche Hilfe” darstellt.
Unterstützt wird der gesamte Text mit veranschaulichenden Bildern, unter anderem von Lara Steinhoff (Pfotenwerkstatt) und einem kleinen Fazit am Ende.
Ernährung
Hier geht Suzanne Eichel (Verlegerin & Chefredakteurin der Zeitschrift CITY DOG), auf das Zusammenspiel von Ernährung & Verhalten und die Futterdeklaration ein.
“In den 1990ern wies der britische Hundeexperte Robert Mugford erstmals nach, dass die Zufuhr von mehr oder weniger Eiweiß das Verhalten des Vierbeiners beeinflusst. Demnach führt eine bestimmte prozentuale Reduktion des Proteingehalts im Futter zu weniger aggressivem Verhalten, insbesondere in Bezug auf die territoriale Aggression.”
Den Anfang machen “Die Grundbausteine der Nahrung”. Hier erfahren wir, z.B. dass Aminosäuren wie Tryptophan für die Bildung von Serotonin benötigt wird werden, welches für Ausgeglichenheit sorgt und Aggression und Impulsivität hemmt. Danach schlägt sie den Bogen zurück zur Schilddrüse mit einem Absatz zum Thema “Der Zusammenhang von Tyrosin und der Schilddrüse”.
Gerne möchte Suzanne Eichel uns auch “Die Angst vor dem Getreide” nehmen und klärt deshalb darüber auf, dass “die Angst davor unberechtigt ist, solange es in moderaten Mengen in der Nahrung enthalten ist”.
Weiter geht´s im “Irrgarten Deklaration”.
Hier erklärt sie in den Absätzen “Die Unterschiede zwischen Nass- und Trockenfutter”, “Tricks bei den Angaben” und “Analytische Bestandteile des Futters”.
Ich stimme ihr in ihrer eindringlichen Bitte am Ende des Exkurses zu, wenn sie schreibt: “Für den Hundehalter bedeutet all dies, dass ein gründlicher Blick auf die Deklaration nicht Kür sondern “Pflicht” ist.”.
Der 7-seitige Exkurs “Persönlichkeit – Genetische und epigenetische Einflüsse auf das hündische Verhalten” wird von Adam Miklosi (ungarischer Verhaltensbiologe mit einem Schwerpunkt im Bereich Verhalten von Haushunden) beigesteuert.
Er beschreibt in diesem, den Zusammenhang von “Natur und Erziehung: die Rolle genetischer und umweltbedingter Faktoren in der Entwicklung der Persönlichkeit” und wie wichtig es ist “sich daran zu erinnern, dass die Persönlichkeit eine Eigenschaft des Individuums ist, also Rassen keine “Persönlichkeit” haben.”
Auch die “Verhältnisse zwischen Genen und Verhalten” sowie die “Umwelteinflüsse auf die Persönlichkeit des Hundes” werden über mehrere Seiten beschrieben. Besonders spannend fand ich die Grafiken zu “Rassenunterschieden im Zusammenhang mit Mut und Trainierbarkeit” und dem “Unterschied zwischen Polizeihunden und Familienhunden im Zusammenhang mit Genvariationen”.
Zusammenfassend kann ich für mich sagen:
Der Anamnese-Baum ist, gerade für Neulinge, ein guter Leitfaden, um sich selbst eine für sich passende Struktur zu erarbeiten. Ich persönlich würde mir in diesem Anamnese-Baum die Themen Gesundheit und Ernährung weiter vorne wünschen, da ein gesunder und für ihn passend ernährter Hund die Basis darstellt, damit Training überhaupt stattfinden kann. Am Ende schließt das Buch mit dem Kapitel Verhaltensanalysen – Praktische Testsituationen zur Überprüfung ab, die für mich die Zielgruppe des Buchs (bereits fertig ausgebildete und angehende Verhaltensberater:innen) nochmal deutlich herausstellt. Alles in allem ein Easy Dogs Insidertipp.
VERLAGSINFO:
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- Autorin: Christine Holst (†)
- Verlag: Eugen Ulmer
- Umfang: 212 Seiten
- Abmessungen: 17.6 x 2.3 x 24.3 cm
- Sprache: deutsch
- ISBN: 978-3818611453
- Preis: 29,95 €