Medical Training mit Pferden – was sich dahinter verbirgt und welche Vorteile das Training mit sich bringt
(1. Teil)
Es ist wieder soweit – die jährliche Impfung deines Pferdes steht an. Ein Termin, der entspannt und gefahrlos für alle Beteiligten ablaufen kann. Ein gutes Medical Training lässt die Traumvorstellung zahlreicher Pferdemenschen von einem kooperierendem Pferd bei Behandlungen jeglicher Art Wirklichkeit werden.
WAS IST MEDICAL TRAINING?
Der Fokus des Medical Trainings liegt auf dem kleinschrittigen Trainieren aller Sequenzen einer vorher definierten Behandlung am Pferd (z.B. Zahnkontrolle, Blutentnahme, …), wodurch zukünftig jene Behandlung entspannt für Pferd und Mensch erfolgen kann. Stress durch eventuelle Zwangsmaßnahmen sowie die Verletzungsgefahr durch Abwehrverhalten des Tieres können somit für Mensch und Pferd auf ein Minimum reduziert werden. Eine zentrale Rolle spielt der Einsatz von Kooperationsverhalten des Pferdes. Das Einnehmen eines vorher festgelegten Kooperationsverhaltens enthält für den Menschen die Information, dass eine Behandlung starten bzw andauern kann.
Im Gegensatz dazu enthält das Verlassen des Kooperationsverhaltens durch das Pferd die Information für den Menschen, dass die Behandlung an dieser Stelle unterbrochen werden muss. Es ermöglicht dem Menschen den passenden Trainingsschritt zu wählen, da der Grad der Kooperationsbereitschaft des Pferdes an eben diesem ohne Missverständnisse abgeleitet werden kann. Auf diese Weise wird die Basis geschaffen für ein zielführendes Training.
WELCHE VORTEILE BRINGT DAS MEDICAL TRAINING?
Notwendige Behandlungen wie Impfungen, Untersuchungen, Verbände anlegen, Zahnkontrolle, … sind stressfrei für Pferd, die behandelnde Person und den Pferdemenschen möglich, da das medical trainierte Pferd entspannt kooperiert. Ein Beenden der Kooperation durch das Pferdes während der Behandlung gibt im Gegenzug Aufschluss über die nicht gut genug trainierten Behandlungssequenzen am Pferd und führt sofort zur Unterbrechung der Behandlung. Behandlungen eines medical trainierten Pferdes bergen ein deutlich kleineres Verletzungsrisiko für die behandelnde Person und das Pferd selbst, da eine klare Kommunikation des Pferdes vor und während der Behandlung stattfinden kann. Aus Sicht des Pferdes macht das ein für die behandelnde Person gefährliches Abwehrverhalten unnötig. Das Pferd darf mitsprechen – fühlt sich gehört und wahrgenommen.
Durch das Einräumen eines Mitspracherechts kooperiert das Tier freiwillig und ohne Zwang, da es zu jedem Zeitpunkt „Nein“ sagen kann. Ein “Ja” zur Behandlung führt zu einer Futterbelohnung, weshalb sich eine Kooperation für das Pferd bei sinnvoll geplanten Trainingsschritten lohnt.
Untersuchungen an einem stillstehenden Pferd verbessern die mögliche Diagnostik enorm. Medical Training eröffnet eine Vielzahl an Behandlungsmöglichkeiten des Pferdes. Sonst schwer zu verabreichende Medikamente sind durch das Medical Training nun stressfrei zu verabreichen, sonst mit großer Abwehr einhergehende Behandlungen können durch das Training entspannt ablaufen. So mündet das Verabreichen einer Wurmkur oder das Versorgen des Auges mit Tropfen häufig in einem Kräftemessen zwischen Pferd und Mensch. Maßnahmen wie der Einsatz einer Nasenbremse finden in letzter Konsequenz nicht selten ihren Einsatz, um das Pferd zum Aufgeben zu zwingen. Dieses Vorgehen birgt neben dem hohen Verletzungsrisiko ebenso ein enormes Stresslevel für Pferd und Mensch und ist der Beziehung beider sehr hinderlich. Das medical trainierte Pferd sagt durch gutes Training „Ja“ zur Wurmkur, Augentropfen & Co. – völlig ohne Stress für den Pferdemenschen und das Pferd. Behandlungen sind ohne Zwangsmaßnahmen wie Fixierung des Pferdes, Einsatz einer Nasenbremse und Co. möglich, was zum einen den Kraftaufwand für die behandelnde Person enorm minimiert und zum anderen eine deutliche Zeitersparnis mit sich bringt. Je mehr Erfahrungen ein Pferd mit Medical Training macht, desto weniger Wiederholungen sind bei neuen Trainingsschwerpunkten nötig, da das Pferd auf eine große Belohnungsgeschichte für „Stillhalten, egal was passiert“ zurückgreifen kann.
WAS IST EIN KOOPERATIONSVERHALTEN?
Ein Kooperationsverhalten beschreibt ein vorher klar definiertes Verhalten, welches das Pferd freiwillig zeigen kann und die Information für den Menschen enthält, ob eine Behandlung starten kann oder nicht. Dem Pferd wird zu Beginn des Trainings ein Verhalten gelehrt, welches perspektivisch als Kooperationsverhalten während des medical trainings fungiert. Dieses Verhalten kann als Start Button oder als Dauerkooperation aufgebaut werden. Egal für welche Art des Kooperationsverhaltens man sich entscheidet – das Stillstehen eines Pferdes ist in jedem Fall die Voraussetzung, dass eine Behandlung stattfinden kann. Genau genommen bestehen also zwei Kooperationsverhalten – das Stillstehen an sich, sowie das eigentliche Kooperationsverhalten. Unter Start Button-Kooperation versteht man ein Verhalten, welches aktiv und unmissverständlich vom Pferd ausgeführt wird und zum Start einer Behandlung führt. Eine solche Kooperation kann zum Beispiel das Berühren eines Targets mit der Pferdenase sein. Eine Dauerkooperation beschreibt ein Verhalten, welches ununterbrochen während der Behandlung gezeigt wird. Verlässt das Pferd das Verhalten, wird die Behandlung unterbrochen. So ist das Betreten und Stehenbleiben auf einer Matte zum Beispiel dem Dauerkooperationsverhalten zuzuordnen. Wurde das Berühren eines Targets mit der Nase des Pferdes als Kooperationsverhalten aufgebaut, enthält das Ausführen dieses Verhaltens durch das Pferd die Information für den Menschen, dass eine Behandlung starten kann. Im Umkehrschluss enthält das „Nicht Berühren des Targets durch das Pferd“ die Information, dass eine Behandlung nicht starten kann. Dem Pferd wird ein Mitspracherecht eingeräumt, welches eine maßgebliche Bedeutung in puncto Selbstbestimmung des Pferdes inne hat. Wer mitsprechen darf, fühlt sich gehört und ernst genommen, was das Gefühl eines „Ausgeliefertseins“ minimiert. Angst und Panik während einer Behandlung können minimiert werden. Zentraler Punkt eines sinnvollen und zielführenden Medical Trainings ist das Training in kleinen Schritten, welche stets an den momentanen Trainingsstand des Pferdes angepasst werden müssen.
Wie ein Kooperationsverhalten aufgebaut werden kann und wo die Vor- und Nachteile einer Start Button- und Dauerkooperation liegen, liest du im 3. Teil meiner Reihe „Medical Training für Pferde“.
WELCHE ROLLE SPIELT DAS KOOPERATIONSVERHALTEN WÄHREND DES TRAININGS?
Im Training legen wir Kriterien fest, welche abhängig von der Erfolgsquote des vorherigen Durchganges sind. So kann ein Kriterium zum Beispiel wie folgt definiert sein:
- Mensch steht im 90° Winkel zum Pferd (Gesicht zur Pferdeschulter)
- rechte Hand greift das linke Vorderbein des Pferdes am Karpalgelenk (Handfläche an Innenseite des Gelenks)
- Hand streicht mit festem Griff (als wollte man Wasser aus dem Fell drücken) bis zum Fesselkopf hinab
Der Mensch steht neben dem Pferd und wartet, dass das Pferd das vorher definierte Kooperationsverhalten zeigt (Nase an Target). Berührt das Pferd mit seiner Nase das Target, startet der vorher definierte Trainingsschritt. Steht das Pferd nach Beendigung des Trainingsschrittes immer noch still wird mittels Markersignal die anschließend folgende Belohnung angekündigt. Nun wartet der Mensch erneut bis das Pferd mit seiner Nase das Target berührt und startet einen neuen Durchgang mit selbem Kriterium. Aufgabe des Menschen ist es stets ein Trainingskriterium zu definieren, welches zum Einen schnell und effektiv auf das definierte Endziel (Impfung des Pferdes in Brust) abzielt, zum Anderen jedoch das Pferd immer wieder „ja“ sagen lässt indem das Kooperationsverhalten durch das Pferd ausgeführt werden kann.
Wie ein sinnvoller Trainingsplan erstellt werden kann, liest du im 4. Teil meiner Reihe „Medical Training für Pferde“.
IST MEDICAL TRAINING FÜR JEDES PFERD GEEIGNET?
Medical Training ist für ausnahmslos jedes Pferd geeignet. Selbst stark traumatisierte Pferde können lernen sämtliche z.B. tierärztliche, osteopathische, hufpflegende Behandlungen freiwillig geschehen zu lassen. Das Beispiel der spanischen Stute Flicka, welche sich zu Beginn unseres Trainings noch nicht einmal anfassen ließ, kannst du auf meinem YouTube Kanal „PferdHundMensch“ verfolgen. Weitere Beispiele für das erfolgreiche Training von (traumatisierten) Pferden findest du in der Facebookgruppe „Medical Training für Pferde mit Nina Steigerwald“. Das Training von Pferden, welche nicht nur mit Angst sondern massiver Panik vor Behandlungen jeglicher Art reagieren, benötigt erfahrungsgemäß nicht signifikant mehr Trainingszeit, da der größte Faktor der Panik das „Ausgeliefertsein“ darstellt. Durch das Training mittels Kooperationsverhalten und sinnvollem Trainingsplan ist es innerhalb kurzer Zeit möglich auch ein traumatisiertes Pferd zur Kooperation zu bewegen.
IST MEDICAL TRAINING VON JEDEM PFERDEMENSCHEN DURCHFÜHRBAR?
Der Erfolg sowie die Geschwindigkeit des Trainingsfortschrittes sind maßgeblich vom Wissensumfang des Menschen und seiner bisherigen Trainingserfahrung diesbezüglich abhängig. So empfiehlt es sich bei massiv traumatisierten Pferden und Pferden mit massivem Abwehrverhalten in jedem Fall eine in Sachen Training kompetente Fachperson zu Rate zu ziehen, welche die passenden Trainingsschritte definiert, Änderungen im Setting vornimmt und das Training bis zum tatsächlichen Besuch der behandelnden Person betreuen kann. Das Training kann hierbei als Präsenztraining im eigenen Stall, sowie als Onlinetraining stattfinden. Für Menschen, welche mindestens über ein grundlegendes Wissen hinsichtlich des Markertrainings sowie der Lerntheorie verfügen sowie Pferde trainieren möchten, welche aktuell zwar nicht glücklich über Behandlungen jeglicher Art sind, jedoch kein massives Abwehrverhalten zeigen, kann ein Austausch inkl. eines Videos des Istzustandes in oben benannter Facebookgruppe sowie ein Training mit Hilfe des sehr empfehlenswerten Buches „Medical Training für Pferde“ von Nina Steigerwald sehr hilfreich sein. Pferdemenschen, die aktuell noch keine Erfahrungen mit Markertraining gemacht haben ist in jedem Fall das Hinzuziehen einer kompetenten Fachperson zu empfehlen. Alle Fachleute des Nina Steigerwald Medical Trainings findest du über die interaktive Karte in der o.g. Facebookgruppe.
WO VERLAUFEN DIE GRENZEN DES MEDICAL TRAININGS?
Medical Training eröffnet die Möglichkeit, Pferde stressfrei und entspannt behandeln zu können, was mit einem erheblich kleineren Verletzungsrisiko für Mensch und Tier einhergeht. Behandlungen wie Impfungen, Blutentnahmen, Ultraschall- oder Röntgenbehandlungen, Hufbearbeitungen, Verbände anlegen, Augentropfen und Wurmkuren verabreichen und zahlreiche weitere Prozeduren sind durch das Medical Training kein Problem mehr. Behandlungen, welche mit großen Schmerzen einhergehen, werden nach wie vor durch betäubende Medikamente fürs Tier erträglich gemacht. So ist es NICHT Ziel des Medical Trainings unzumutbare Behandlungen fürs Tier trainieren zu wollen, vielmehr setzt das Medical Training den Fokus auf Behandlungen, welche nicht mit größeren Schmerzen fürs Tier einhergehen, auf Sequenzen VOR und NACH Behandlungen, welche unter sedierenden Medikamenten stattfinden sowie auf das Gewöhnen an Gerüche, Geräte und Geräusche im Zusammenhang mit notwendigen Behandlungen. Kerngedanken wie sich überall anfassen zu lassen, stets still zu stehen und zu kooperieren stellen im Medical Training die zentralen Punkte dar.
FAZIT :
Medical Training ist eine großartige Methode, um eine anstehende Behandlung des Pferdes für alle Beteiligten stressfrei und entspannt ablaufen lassen zu können. Zahlreiche Vorteile lassen das ursprünglich aus dem Zoo- und Wildtierbereich stammende Training zunehmend in die Pferdeställe Einzug halten. Nicht nur Pferdemenschen, auch z.B. tierärztliche, osteopathische und hufpflegende Fachmenschen profitieren von einem medical trainierten Pferd, da nicht zuletzt das eigene Verletzungsrisiko nennenswert minimiert wird. Neben dem sinkenden Zeitfaktor für Behandlungen, welche bis jetzt nur unter massiver körperlicher Anstrengung für Mensch und Tier ablaufen konnten, gewinnt auch die Diagnostik einen riesigen Handlungsspielraum durch ein entspannt behandelbares Pferd.